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    Ältere Herrschaften...

    Tja, Gibt es ein Leben über 40? (con anima CA 26546 / Hörsturz ISBN 3-931265-46-3; live, 2 CDs, 19 Tracks, 71:40 min. + 17 Tracks, 54:27 min.), das ist die Frage für Thomas Reis, und wie könnte es aussehen? Zu alt für die Disco und zu jung fürs fröhliche Seniorenleben auf Inlinern – da muss man ja in eine Lebenskrise kommen. Das ist nicht leicht, und so schwadroniert und parodiert er sich fleißig und bisweilen makaber durch die Zeit- und Selbstanalyse. Jeder bekommt sein Fett ab: die Kids, die Rentner, die eigene Generation und manch Prominenter. Ein munteres, wahrlich abendfüllendes Programm, das dieser alternde Herr Reis da abliefert, soll ihn seine „orale Schließmuskelinsuffizienz“ ruhig noch eine lange Weile plagen.

    Auch David Leukert ist in diesem Alter und er hat vor allem Probleme mit seinem Nachwuchs und den Beziehungen, natürlich. Diese coolen abgeklärten Gören aus den Patchworkfamilien können einem das Leben schon ganz schön schwer machen. Und die dazugehörenden Mütter erst, oder die eigene gar. Männer haben es eben heutzutage nicht leicht. Soll Mann hart sein oder sensibel, oder beides? Sind die inneren Werte wichtiger als die äußeren, oder umgekehrt? Und was wollen die Frauen eigentlich? Also lauter bedeutende, ungeklärte Fragen, mit denen sich der arme Mann herumschlägt. Ich und Du (WortArt 71358 / Lübbe ISBN 3-7857-1358-4; live, 20 Tracks, 55:51 min.), wir verstehen, was ihn bewegt, spätestens nach dieser CD.

    Über Flaschendrehen und andere miese Bräuche (WortArt 71414 / Lübbe ISBN 3-7857-1414-9; live, 26 Tracks + CD-ROM Dia-Show, 71:36 min.) erregen sich lauthals und singend Jess Jochimsen + Die halbe Wahrheit (alias Sascha Bendiks). Der Niedergang des Kaffeehauses, das Mysterium der Menschen hinter der Mattscheibe, die Pubertät oder der kurze Gedanke an Couchgarnituren werden in Moderationen und Songs mit einigem musikalischen Talent durchgehechelt. Auch diese beiden Herren bewegt vor allem Privates, Persönliches und Alltägliches. An gesellschaftskritisches oder gar politisches Kabarett scheinen sich, obwohl die Zeiten einigen Stoff böten, nicht viele heranzutrauen.

    Eine literarische Comedy-Show nennt Jörg Maurer sein Programm: Der Satz im Silbensee (Jörg Maurers Unterton Tel.: 089-342381; live, 12 Tracks, 73:11min.). Herr Maurer verlässt also eines Tages sein Klavier, um in seinem Keller Hemden zu waschen, und wird dort einer großen Anzahl von Geistesgrößen gewahr, die auf den Eintritt ins Nirwana warten. Wahrscheinlich ist es eher der Weinkeller gewesen, in den er sich verlaufen hat, denn er möchte nun von einem ehemaligen Weimarer Geheimrat „Hänschenklein“ im Goethestil hören. In dieser Art werden anschließend diverse Dichter und Denker parodiert und manch wahrer, kritischer Unterton in die Alberei eingeflochten. Richtig schmutzige Wäsche wird nicht gewaschen, es ist ja Comedy, es war nicht zu heiß, er hat gut weichgespült, also alles sehr verträglich.

    Einen wesentlich härteren (deutschen) Stoff fasst ausgerechnet ein türkischstämmiger Künstler an: Serdar Somuncu liest Joseph Goebbels (Diese Stunde der Idiotie „Wollt ihr den totalen Krieg?“) (WortArt 71355 / Lübbe ISBN 3-7857-1355X, live, 13 Tracks + Videotrack, 67:29 min.). Goebbels’ berüchtigte Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 ist heute kaum bekannt und nur noch als Mythos berühmt. Diesen Mythos zu entzaubern hat sich Somuncu zum Ziel gesetzt. Er trägt den Text vor, hinterfragt die Aussagen und steigert, mit stellenweise sehr derbem Humor, das Pathos der Rede ins Lächerliche und Abstruse. So versucht er die suggestive Wirkung der Goebbels’schen Demagogie zu verstören und den Inhalt der Rede einer rationalen Beurteilung zugänglich zu machen. Ein schwieriges Unterfangen, inwieweit dies bei unterschiedlichem Publikum funktioniert, kann hier nicht beurteilt werden, gleichwohl ist der Ansatz sehr interessant. Nach seinem Programm über Hitlers „Mein Kampf“ ist das sein zweites Projekt solch aufklärerischen Inhalts.

    Von den Nazischergen verfolgt wurde die jüdische Dichterin Mascha Kaléko. Sie konnte/musste 1938 auswandern und ist seither in Deutschland halb vergessen. Günter Gall singt und spricht das Chanson vom Montag (Artychoke Tel.: 04421-43704; 22 Tracks, 47:11 min., Infos) und andere Gedichte dieser begnadeten Künstlerin, deren Alltagslyrik von so schlichter Eleganz ist. Zusammen mit dem Gitarristen Ingo Schneider gibt er einen Überblick über ihr Schaffen in den verschiedenen Perioden ihres wechselvollen Lebens: Ein lohneswerter Einstieg in Kalékos Werk.

    Ehedem auch sehr populär und seit seiner Emigration 1939 fast vergessen ist der österreichische Dichter Theodor Kramer. Wolfgang Rieck, ein Liedermacher aus Mecklenburg (Musiker seit über 30 Jahren, früher auch mal bei Liederjan) hat auf seiner neuen CD Alles muss sich wandeln (W. Rieck Tel.: 038462-20286; 16 Tracks, 57:12 min., Texte, Infos) sechs seiner Texte dem Vergessen entrissen, vertont und interpretiert. Es ist eine rundherum schöne und gelungene Produktion geworden. Ein sorgfältiges und liebevoll gestaltetes Booklet deutet schon an, was sich beim Hören bestätigt: Wolfgang Rieck versteht sein Handwerk, er nimmt seine Kunst und die Zuhörer ernst, und diese hohe Qualität spiegelt sich auch in seinen eigenen Texten, den Kompositionen, den Arrangements und dem Vortrag wider. Schöne, nachdenkliche Lieder (auch in Platt), nichts für die Schnelle.

    Ebenfalls vor den Nazis geflohen ist der geniale Hannoveraner Dadaist Kurt Schwitters. Er nahm fast spielerisch große Teile der künstlerischen Moderne vorweg, in Bildern, Skulpturen, Installationen und mit jener einzigartigen Ursonate (Conträr 1644-2; 14 Tracks, 59:40 min., Infos). Eine Sonate aus Lauten und Wortschnipseln, sorgfältig durchkomponiert, die auch achtzig Jahre nach ihrem Entstehen immer noch auf Unverständnis und Verwirrung stößt. Aber wenn man sich einmal eingelassen hat auf diese ungewöhnliche Lautpoesie, dann wird man von der Idee, ihrer Rhythmik und der Melodik beeindruckt sein. Zumal, wenn man die Version des Berliner Fagottisten Alexander Voigt hört (und sieht), wird man überrascht und überzeugt sein. Bei ihm wird die Musikalität dieser Klanginstallation besonders deutlich. Eine ebenso präzise wie fantasievolle Interpretation. Zwei Solostücke für Fagott (von Malcom Arnold und Isang Yun) runden den guten Eindruck dieser außergewöhnlichen CD ab. Gönnen Sie sich mal etwas Besonderes!

    Spätestens seit dem Soundtrack zum Film „Halbe Treppe“ sind die 17 Hippies einem größeren Publikum ein Begriff. Diese Großcombo, die verschiedenste Folkmusiken, Jazz und Rock vermengt, poetische Texte dazu singt und sowohl tanzbare als auch hörbare Musik produziert, hat eine neue Scheibe auf Lager: IFNI (Hisper-Records/Soulfood HiP 006; 15 Tracks, 46:21 min.). Mal melancholisch, dann verträumt oder wieder temperamentvoll, so sind die Songs auf der neuen CD. Eindringliche Texte, voller Poesie – eine CD, die zum Hören und Verschenken einlädt.

    Da haben sich zwei ältere Herren (über 30) darüber aufgeregt, dass die großen Plattenfirmen nur für Teenies produzieren, und ergo beschlossen sie, die Lücke mit einer eigenen Musikproduktion zu schließen. Die Besten von den Letzten (Roof Music RD 2433204; 24 Tracks, 70:30 min., Texte, Infos) nennen Rosen & Gomorrha (alias Martin Meinschäfer, Toett und Begleitband) das Ergebnis ihres Bemühens. Und die Mühe hat sich gelohnt. Es ist ein munteres Scheibchen geworden, kluge Texte voller Poesie, Humor und Pfiff, fetzige Musik mit vielfältigen Arrangements. Eine vielversprechende Alternative zu den gecasteten Popmarionetten, die viel Künstliches, aber nichts Künstlerisches zu bieten haben.

    Bei Chansons denkt man zunächst einmal an Frankreich, aber es kommen aus Osteuropa immer mehr Künstler/-innen, die dieses Genre eindrucksvoll beherrschen. Eine davon ist Celina Muza aus Polen. Zarte, geheimnisvolle Lieder sind ihr Markenzeichen, Träume, Wünsche, Liebe und Sehnsüchte sind ihre Themen. Berühre mich (Duo-Phon 06123; 11 Tracks, 49:16 min., Textausschnitte) heißt ihre neue CD und zunächst einmal berührt sie uns. Ihre Lieder, ihr Gesang strahlen etwas Geheimnisvolles aus, das verführt, betört und einnimmt. Ein Name, den man sich merken muss.

    Die Wellküren gehen bekanntlich deftiger zur Sache. Die Familie Well, die wo die Biermösl Blosn (Buam) und die Wellküren (Madln) hervorgebracht hat, ist ein wahrer Glücksfall für die (bayerische) Musik. Traditionals, Volkslieder also, stehen diesmal auf dem Programm. Aber natürlich nicht irgendwelche, sondern Texte, in denen Das Mensch (Mood 6752 / Zweitausendeins; 16 Tracks, 43:51 min., Texte) , also die Frau, Erotik und Sexualität erlebt. Jodler, Zweier, Gstanzl, was das Volkslied so hergibt, mit eindeutig zweideutigem Inhalt und Frauen betreffend, natürlich hervorragend in Dialekt intoniert.

    Volkslieder anderer Art, nämlich Arbeiterlieder, genauer Bergarbeiterlieder haben Ende der siebziger Jahre einige Künstler aus NRW, u. a. Frank Baier und Fasia Jansen, bei einem Workshop aufgenommen. Unter dem Titel Mein Vater war Bergmann (Pläne 89011; 17 Tracks, 44:13, Texte, Infos) werden einem die Arbeits-, Lebens- und Kampfbedingungen der Menschen einer Branche deutlich, die einst ganze Regionen prägte und heute weitgehend verschwunden ist. Ein aufwändiges Booklet begleitet den Hörer informativ und bewahrt diese Musiktradition vor dem Vergessen.

    Der Zauberlehrling (Eulenspiegel ISBN 3-359-01044-2; 24 Tracks, 79:33 min.) und andere Gedichte und Balladen, die der Schauspieler Eberhard Esche vorträgt, waren einst Allgemeingut und gehören heute schon fast zum gehobenen Bildungsgut. So ändern sich die Zeiten, man kann es beklagen, und Eberhard Esche möchte diesem Bedeutungsverlust entgegenwirken. Den Sänger, den Taucher, den Handschuh, die Bürgschaft, den Zauberlehrling u. a. stellt er uns vor, und manch einer wird die eine oder andere Sequenz noch aus der Schulzeit mitsprechen können. Der Genuss wäre größer, wenn Esche sich nicht mit den Jahren diese etwas nasale, ziehende Intonation, diese leichte Akzentverschiebung zu Eigen gemacht hätte, mit der er alles vorträgt. Eine Form von Lässigkeit, die leider auf die Dauer nicht belebt, sondern anstrengt.

    In der DDR hatte es einst Schallplattenbücher gegeben, also (hübsch gemachte) Bücher, denen eine Schallplatte beigefügt war. Diese Ausgaben waren immer etwas Besonderes und daher entsprechend begehrt. Ein Fundus, aus dem der Eulenspiegel-Verlag anlässlich seines 50. Geburtstags geschöpft hat: Das große Welttheater auf Eulenspiegels Bühne (Eulenspiegel ISBN 3-359-01070-1; 22 Tracks, 64:41 min.). Illustre Namen sind auf diesem Sampler versammelt: u. a. Rolf Ludwig, Gerry Wolff, Jessy Rameik, Vera Oelschlegel und nicht zuletzt Helene Weigel und Bert Brecht. So unterschiedlich die Interpreten, so unterschiedlich die Chansons: Moritaten, Liebeslieder und politische Songs – die ganze Auswahl ist vom Feinsten. Interessant vor allem auch der Brecht, der ja nun nicht gerade ein begnadeter Sänger war. Man hört geradezu, wie er beim Dichten den Klang, den Ausdruck im Hinterkopf gehabt hat. Wie krrrraftvoll man ihn interpretieren muss – eine Lektion für (angehende und praktizierende) Chansonsänger/-innen.

    Die Schauspielerin, Sängerin und Kabarettistin Edith Schollwer wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden (sie starb 2002!), eine Zusammenstellung ihrer Schallplattenaufnahmen erinnert an den Geburtstag: Künstlerball bei Kroll (Duo-Phon 05463; 20 Tracks, 76:48 min., Infos). Es sind auf der CD vor allem ihre Operettenaufnahmen zu hören, von ihren Liedern mit dem (West-)Berliner Radiokabarett „Die Insulaner“ ist das „Wanderlied einer Hausfrau“ vertreten.

    Als vor ca. 80 Jahren das Radio seinen Siegeszug antrat, waren das Interesse und die Faszination bei der Hörerschaft und den Künstlern gleichermaßen groß. Unzählige Lieder und Sketche beschäftigten sich mit dem neuen Medium und viele Künstler produzierten Schlager rund ums Radio (Duo-Phon 05413; 22 Tracks, 76:49 min., Infos). Der rührige Volker Kühn hat die Auswahl zusammengestellt, wir hören u. a. Paul Graetz, Bruno Fritz, Karl Valentin mit Liesl Karlstadt, Willy Rosen und Johannes Heesters. Es ist ganz nett nachzuvollziehen, wie die Menschen auf die Medienrevolution ihrer Zeit reagierten. - Windzerzaust und sonnenverbrannt, an Abenteuern und bestandenen Gefahren gereift, ist die Kapelle HISS von ihren ausgedehnten Reisen in die wenig erforschten Gegenden der Erdkugel zurückgekehrt. Schön für uns. Denn was HISS uns jetzt auf ihrer aktuellen CD „Polka für die Welt“ (Wintrup Musikverlag Tel. 05231-925 30) bringt, klingt nach den rauen Tundren Finnlands, nach der Dürre des nordmexikanischen Sommers, dem Liebreiz Transsylvaniens und der Schwüle in den Sümpfen Louisianas. Ob es nun eigene deutschsprachige Werke sind, ob es Skispringerhymnen oder Gouchotänze sind, alles ist durchweht von Forschergeist und Risikofreude.

    So vermählen diese Teufelskerle die Polka polnischer Auswanderer mit jamaikanischer Gelassenheit, deutsche Abschiedskläge mit der Hitze der Südstaaten, Europa mit Afrika, Ost mit West.

    Redaktion:Rainer Katlewski

    2004-06-15 | Nr. 43 | Weitere Artikel von: Rainer Katlewski