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  • Szenen Regionen :: Frankreich

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    Ausländer! Raus, auf die Bühne!

     

    Ein Serbe, eine Japanerin, eine Münchenerin und ein Amerikaner, und alle leben seit Jahrzehnten in Frankreich. Nicht zum ersten Mal unternimmt Szene Frankreich in Sachen visuelles Theater eine Art Weltreise. Wo bleiben die Einheimischen? Nun, die Franzosen selbst haben sich stark dem Straßentheater und dem neuen Zirkus zugewandt. Das Kosmopolitische der Körpertheaterszene geht auch auf Frankreichs große Tradition der Mimenschulen zurück, die werdende Künstler aus aller Welt anzogen. Viele, aber längst nicht alle, kehrten zurück in ihre Heimat. Nach dem Tod von Marcel Marceau strömten sie herbei aus Polen, Taiwan, Helsinki, Rio, Los Angeles, Dublin etc., um der Beisetzung auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise beizuwohnen. Franzosen waren kaum dabei. Marceaus Ecole internationale du mimodrame war schon vor dessen Abschied geschlossen worden. Marceau selbst hatte festgestellt, dass die Schüler immer in Wellen seine Schule stürmten, je nachdem, in welchem Land er zuvor auf Tournee war. Die Franzosen selbst waren die Letzten. Viele Ehemalige, darunter Berühmtheiten wie Mauricio Celedon, der Leiter des chilenischen Teatro del Silencio, oder der Schweizer Regisseur und Choreograf Philippe Minella, beschlossen am 22. März (Marceaus Geburtsdatum), eine Vereinigung namens Planète MiMe zu gründen. Immerhin, vergessen wir nicht, dass auch Etienne Bonduelle (ein Franzose!) einst mit Marceau auf der Bühne stand. Heute ist er Kurator des Festivals Mimos, das auch 2008 wieder sehr international aufwartet (siehe Kasten). Klar ist, dass die Mimenschulen ein Ambiente schufen, welches auch reife Künstler aus aller Welt anzog, da es ihnen erlaubte, neue Formen zu entwickeln und ein offenes Publikum zu finden.

    So gehört zu Frankreichs Szene sogar eine „Jodlerin“. Die kommt, natürlich, aus München, und ihre Kompanie heißt Die Donau. Aber die charmante Blonde kann noch so sehr darauf bestehen, in jedem ihrer surrealistischen Soli ein Paar bayerische Töne von sich zu geben: Andrea Sitter gehört fest zur Pariser Szene. Man mag in ihr auch viel mehr einen modernen Ionesco sehen als einen Karl Valentin des Tanzes. Sitters Humor ist hintergründig, filigran und selbstironisch. Trotzdem hält sie nicht hinter dem Berg damit, und auch nicht hinter den Alpen, dass sie das Ballett von der Spitze auf erlernt hat. Nicht, dass sie ein großer Star wäre in Frankreich. Wessen Kunst in keine Schublade passt, der oder die hat es dort schwer, die Stufen der Institutionen zu erklimmen. Das ist ungerecht. Denn in dieser Schamanin der Ratio jubilieren ein Schnabel Schwanensee, ein Blümchen Marceau, eine Grimasse Ausdruckstanz, ein Zwinkern Prévert, ein Lichtstrahl Fellini, eine Prise Äther von Kazuo Ohno, ein Trällern der Callas und wer weiß was noch alles. Aber was ist schon gerecht im Leben? Hätte sie ihre Stücke im Berlin der 20er-Jahre kreiert, würde sie heute von der Tanzwelt als Genie verehrt wie Kurt Jooss oder Dore Hoyer. Sitters Humor unterläuft den Fast-Food-Mainstream und genau deshalb stolziert ihr königlicher Humor auch nie durch das Kommerz-TV. In „La reine s’ennuie“ (Die Königin langweilt sich) wird klar: Sitter verlacht den Mythos nicht, sondern sie hinterfragt, wie er uns heute erscheinen kann, in all seiner Leere. Sie hält Kontakt zum Publikum, spricht es direkt an, ob mit Worten oder Mimik, und das ihr ganzes Dada-Ballet lang. Den klassischen Tanz benutzt sie wie Dali seine Staffelei. Sitters Ironie schwebt über den Gipfeln von Ballett und Psychologie, als hätte sie beides studiert. Da gibt’s immer etwas zu lachen, ohne dass sie etwa das Ballett anklagte. Sie nutzt es einfach als Grundlage, um auf der Bühne ihren Spleen zu entwickeln. In „Une Intense Action Restructurante“ reichen ihr Kleid, Eimer, Viereck und Mikro mit Kabel (alle in Pink), um eine Welt zu bauen, in der sich die Essenz zeitgenössischer Kunst spiegelt. Bei aller kabarettistischen Verschmitztheit bleibt hier die Eleganz immer präsent. Manchmal steigt sie sogar auf die Spitzen. Nur wer das beherrscht, vermag so traumhaft sicher auf dem Seil der Satire zu schweben, ohne jemals in Klamauk oder Didaktisches abzugleiten. Mit so viel Spaß suchen sonst nur Clowns nach dem Sinn unseres Daseins. Darum richtet sie sich auch längst nicht nur an das Tanzpublikum. In ihrem Selbstporträt „La cinquième position“ verleiht sie dem absurden Humor einen sehr zeitgemäßen und persönlichen Touch, rechnet mit ihrem Verhältnis zu Deutschland und zur Tanzwelt ab. „Macht endlich euer Jodldiplom!“ ruft die Bilderstürmerin ins lachende Publikum. Sitters urbayerisch-weltgewandte Soli beweisen, dass „Kleinkunst“ eigentlich die größte ist, weil sie ohne Beiwerk auskommt, und nur deshalb nicht als solche erkannt wird, weil ihr der mediale Lautsprecher fehlt.

    Mladen Materic floh 1992 vor dem Balkankrieg aus Sarajevo. Da war er bereits ein international gefeierter Regisseur. Seine Kompanie Théâtre Tattoo ist heute dem Théâtre Garonne in Toulouse angeschlossen. In seinen surrealistischen Bilderfolgen verarbeitet er immer wieder Stimmungen aus seiner Heimat und zeigt, wie Gewalt von außen in die private Sphäre hineingetragen wird. 2001 kreierte er „La cuisine“, zusammen mit Peter Handke. Tattoo tritt in Paris im Théâtre de la Bastille auf und wird von Festivals wie den Wiener Festwochen und der Ruhrtriennale eingeladen. Der Titel seiner Kreation 2008 ist „Nouvelle Byzance“. In dem Fünf-Personen-Stück erinnern die Spieler oft an Magritte, etwa, wenn ihnen Bäumchen aus den Händen wachsen, lange Stäbe den Körper durchbohren oder im Rücken ein Wasserhahn steckt. Neben Bildern, die sich ans Unterbewusstsein richten, geht es um Alltagsszenen und Schwierigkeiten zwischen Mann und Frau. Gewalt wird nur angedeutet, in obsessionellen, heftigen Tanzbewegungen. Vor allem aber macht Materic einen großen Schritt in Richtung bildende Kunst, mit seinem Bühnenbild, das auch mit Skulpturen arbeitet, wenn etwa eine Paprika und eine Aubergine übergroß im Raum hängen. Intensives Farbenspiel ergänzt die stilisierten, aber stets warmen, lebendigen Gesten und schafft tatsächlich einen Sturm der Empfindungen.

    Ähnlich lange wie Materic lebt auch Howard Buten in Frankreich. Der Amerikaner ist Romanautor und lebt in seinem Haus mit Autisten. Sehr wahrscheinlich ist die unendliche Zärtlichkeit der Clownfigur Buffo mit seinem humanistischen Engagement eng verbunden. Buffo ist eigentlich auch eher Mime als Clown. Dazu passt, dass Buten selbst angibt, Zirkusclowns zu hassen. Buffo trägt heute nur noch die bemalte Spitze als Clownnase. Was uns Buffo so nahebringt ist, dass seine Maske und Persönlichkeit den Mensch Buten nur minimal überzeichnen. Wie alle großen Clowns arbeitet Buten ständig an derselben Figur und entwickelt immer neue Varianten der Überraschungen, die Buffo ereilen. Eigentlich will er nur Musik machen, aber das Notenblatt kommt als Fax aus einem Klavierhocker, die Marseillaise spielt er mit dem Allerwertesten, sein Grummeln ist eine Art Jazz und das Cello seine Geliebte. Buffo ist natürlich nicht der erste Musikclown, aber gewiss der filigranste, niemals melancholisch, immer schwebend poetisch. Ein leicht autistisches Kind, das gewiss noch lernen wird, in dieser Welt zurechtzukommen. Im Juli wird er auf dem Avignon-Festival im Théâtre du Chêne noir zu sehen sein. (www.buffo-buten.com)

     

    Das Festival Dance Box im Pariser Kulturzentrum Tenri ist abonniert auf die Performances von Yumi Fujitani. In „La Femme – Ichi Nukata“ erzählt sie aus ihrem Leben und Alltag und hält nicht zurück mit Wutausbrüchen. Denn trotz geregelten Lebens ohne erdrückende Sorgen: Strebt der Mensch nicht tiefere Erfüllung an? Fujitani ist keine Butohtänzerin (mehr), sondern arbeitet auch im Theater und mit Videokunst. „La femme“ aber kommt ohne viel technisches Gerät aus. Dafür steht das furiose Frauenbild dem Ausdruckstanz nahe, mit Hexenbildern à la Valeska Gert, die den schönen Schein der bürgerlichen Oberfläche demontieren. Fujitani, die sonst eher das Mysterium im Alltag untersucht, ist hier beeindruckend geradlinig, kraftvoll, rebellisch. Und der Ausdruckstanz gehörte historisch zu den Geburtshelfern des Butoh! (www.tenri-paris.com)

    Redaktion: Thomas Hahn

    2008-06-15 | Nr. 59 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn