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  • Themen-Fokus :: Clown | Mime

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    DAS GYMNASIUM DER LICEDEI

    Die Licedei sind unverwüstlich, auch wenn sie seit Jahren die Nabelschnur zu ihrem Gründer Slava Polunin gekappt haben. Der von Polunin gegründeten Theater- und Clownschule in Sankt Petersburg haben sie indessen neues Leben eingehaucht. Zur Zeit bereiten sie eine besonders pompöse Aufführung vor, obwohl sie weiterhin jahraus jahrein mit ihrem überlangen Clownbus in Europa auf Tournee sind. In ihrer Heimatstadt leisten sie ausserdem Sozialarbeit. Ihre Schule ist nur eine von vielen privaten Initiativen, die in den ehemals sozialistischen Staaten Fürsorgepflichten an Stelle der Regierungen übernehmen.

    Trotz dieses aktiven Engagements wird es direkte politische Aussagen bei den Licedei nicht geben. Dazu sind die Einstellungen der Mitglieder der Truppe zu unterschiedlich. Einige sollen weiterhin vom Kommunismus überzeugt sein. Andere nicht. 

    Boris Petruschanski, künstlerischer Leiter des Licedei und als solcher Nachfolger von Polunin, und Viktor Solowiew, beide seit zweiundzwanzig Jahren Mitglieder der Licedei, fanden sich am Rande der Aufführungen ihrer aktuellen Stücke bereit, über die Kompanie und ihre Schule zu plaudern.

    Trottoir: Auf welchen Wegen wird bei den Licedei eine Kreation angegangen ? 

     

    Boris Petruschanski: Theater Licedei ist ein Kollektiv, in dem man alles machen kann, mit Grafik anfangen, inszenieren, neue Nummern kreieren, Bücher über Theater verfassen, Plakate oder Bühnenbilder gestalten. Jeder kann alles machen.

    Trottoir: Wer sind die Mitglieder der Truppe, woher kommen sie?

    BP : Wir haben alle Universitätsabschluss. Wäre Viktor nicht Clown geworden, so wäre er heute entsprechend seiner ursprünglichen Ausbildung Weltraumingenieur. Andere haben Veterinärmedizin studiert. Der Bühnentechniker Gennadi Bokhdan war ein Ranger, hat an Militäroperationen teilgenommen. Andere kommen  vom Marionettentheater. Diese Vielfalt erlaubt es uns, lange Zeit zusammen zu bleiben.

    Trottoir: Obwohl ja die Unversität eigentlich theoretisch ausbildet und der  Clown eher aus der Praxis des Lebens schöpft.

    BP: Das Bildungssystem in der UdSSR war in allen Belangen bemerkenswert. Und als wir uns entschieden Clowns zu werden, waren wir intellektuell „volljährig„ und wussten genau, worauf wir uns einliessen. 

    Trottoir: Wie funktioniert denn die Theaterschule der Licedei in Sankt Petersburg?

    BP: Wir haben innerhalb unseres Kollektivs ein Gymnasium der Licedei gegründet. Im Grunde führen wir eine von Slava Polunin etwa 1980 gegründete Schule weiter, deren Programm wir dadurch erweitert haben, dass wir die Praxiskurse weiter entwickelt haben. 

    Der erste Jahrgang hat die Schule abgeschlossen und ist mit der Kompanie auf Tournee. Das Stück heisst «Semenyuki. Sie haben es selbst geschrieben und auf die Bühne gebracht. Und ein neuer Jahrgang steht bereits mitten  in der Ausbildung. Wir hoffen, dass bald  in jedem Jahr neue Absolventen die Licedei verstärken und mit uns auf Tournee gehen werden.

    Viktor Soloviev: Die Ausbildung dauert vier Jahre, wie in allen guten Theaterschulen. Das Programm ist dasselbe wie in klassischen Theaterakademien. Die Lehrer für Theatergeschichte kommen von den staatlichen Schulen ; es sind die zur Zeit besten Lehrer von Sankt-Petersburg. Die Clownkurse geben die Mitglieder der Licedei.

    Trottoir: Wieviele Schüler werden aufgenommen? Wieviel kostet es?

    VS: Zur Zeit lernen zwanzig Schüler, die aus vierhundert Kandidaten ausgewählt wurden. Alle Kurse sind gratis, niemand zahlt Schulgeld.  Der Ruf unseres Kollektivs hilft den Absolventen nach der Ausbildung, sehr schnell von ihrer Kunst zu leben.

    Trottoir: Wie finanzieren Sie dann die Schule?

    BP: Die Schule finanzieren wir mit einem Teil unserer Tournee-Einnahmen. So bezahlen wir die Lehrer. Ich habe selbst eine sehr undankbare Kindheit durchgemacht. Daher ist die Schule ein Mittel, anderen Jugendlichen, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen zu helfen. Ich habe ausserdem einen Hilfsfond für bedürftige Kinder eingerichtet. Und jetzt sehen Sie wie wir unsere Mitglieder bezahlen (Boris lacht, öffnet einen Umschlag und reicht Geldscheine an einen Schauspieler « unter dem Tisch »)

    VS: Wir sind sechs bis sieben Monate im Jahr auf Tournee, eigentlich viel zu viel.

    Trottoir : Welche Projekte hat die Kompanie?

    BP: Zu unseren Projekten in Russland gehören auch Video- und Kinofilme, und eine grosse Inszenierung zur Dreihundertjahrfeier von Sankt-Petersburg. ( Stadtgründung Sankt Petersburg: 27. Mai 1703)

    Das wird eine ozeanische Revue mit den Licedei, Musikern und Sängern, mit klassischem Bühnenbild, Videotechnik und Feuerwerk, ohne den Geist der Licedei zu vergessen, d.h. unsere Mischung aus Romantik, Poesie und Tragik. Wir werden eventuell Slava Polunin integrieren können, den Gründer der Licedei. 

    Trottoir: Was bedeutet Russland für die Erarbeitung von Szenen wie in Pokatuckha, wenn ein Matrose hilflos mit roten(!) Wimpeln wedelt, ein Kosmonaut ironisch durch den Saal schwebt oder die Waschfrauen voller Wut die Laken frenetisch auf den Boden knallen?

    BP: Die jüngsten Veränderungen in Russland haben uns künstlerisch nicht beeinflusst. Wir sind Kinder dieses Landes und bleiben unserer Linie treu, unabhängig von der politischen Situation. Alle unsere Sketche gründen sich auf dem Terrain unserer Heimat. Auf anderen Böden könnte unsere Kreativität sich nicht entfalten. Der Torero mit dem Stier zum Beispiel : das ist absolut russisch, nur in Russland kann ein Toreador mit einem Fisch kämpfen. Die Frauen rächen sich für die unangenehme Seite ihrer Kondition. Die Hälfte des Landes spielt diese Szene ständig. Aber nicht mit Musik auf einer Bühne. Pokatuckha ist unser Klassiker, dessen einzelne Szenen sich ständig weiter entwickeln. Kurios ist : was auch immer wir erdenken, findet in allen anderen Ländern Bezugspunkte, egal auf welchem Kontinent. Es geht doch immer um den universellen Humor der Menschheit. In der ganzen Welt lächeln, lachen und weinen die Menschen mit denselben Gesichtsbewegungen.

    Licedei bedeutet:  Mit dem Gesicht agieren. Licedei-Gründer Slava Polunin hat inzwischen ein Anwesen in der Nähe von Paris gekauft und spielt mit dem Gedanken, dort eventuell ab 2003 ein Clownschule einzurichten. Zwar kann man sich bereits jetzt bei Polunin in die Lehre gehen, doch wird man dann einfach ins kalte Wasser geworfen, d.h., direkt auf die Bühne geschickt und lernt durch Praxis. Über die Entwicklung des Angebotes bei Polunin oder den Licedei werde ich Euch weiter informieren.

    Das Gespräch führte Thomas Hahn

    Polunins Adresse:

    Résidence du Moulin Nicole
    av Ensoleillée
    77580 CRECY LA CHAPELLE  
    Tel :  33 1 64 63 91 97

     

    2002-09-15 | Nr. 36 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn