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  • Themen-Fokus :: Strassentheater

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    Extraklasse : Tänzer auf Pflaster, Gras, Beton

    Tanz spielt auf Straßentheaterfesten eine immer größere Rolle und wird vom Publikum bestens goutiert. In Frankreich gibt es sogar schon kleine Festivals die sich ausschließlich dem Tanz im Freien widmen. Die größeren Festivals bieten Tanz im In und im Off.

    Hinter Tanz auf der Straße verbergen sich aber völlig unterschiedliche Konzepte. Die größten Inszenierungen spielen auf Bühnen die im Freien aufbgebaut werden und für das  Publikum gibt es eventuell sogar eine Tribüne. Zu dieser Kategorie gehört z.B. “Lazurd” der Katalanen von Senza Tempo.

    Dann gibt es den unterhaltenden, figurativen Tanz, meist von vier bis fünf Interpreten vor historischen Gebäudefassaden gespielt. Weniger oft wird nicht nur auf, sondern mit der Straße gearbeitet. So wie im ersten Stück von Senza Tempo, “Capricho” das seit Jahren auf Tournee ist. Oder wie bei Les Imagiques, einem Männerduo das unter anderem den Tanz in der Telefonzelle erfunden hat. Andere wiederum gefallen sich in der Fellini-Attitiude … na eben, La Strada.

    Senza Tempo blasen in “Lazurd” auf ihrer Freilichtbühne gar ein Schwimmbecken auf und erheben den Tanz in die Kategorie der großen Abschlußaufführungen der Festivals. Das Stück erzählt eine schrille Romanze in katalanischer Art, mit Orgie und Bankett das nicht ins Wasser fällt sondern darin untergeht.

    Olivier Bodin hat sich auf outdoor spezialisiert und ist mit “LesBaltikans” einer der Väter eines Tanzes der, obwohl  keine Geschichte erzählend, noch, wie übrigens die meisten Outdoor-Stücke, zum figurativen Genre gehört. Hier geht es um ein exotisches Volk zwischen Baltikum and Balkan. Die eher schweren Kostüme sind farbfreudig (violett) und das muntere, unterhaltende Stück ist auf Frankreichs Festivals ein Dauerbrenner.

    Les Saltindanses sind mit “Le Cabaret mouvementé” vielleicht sogar noch länger im Geschäft. Die fünf Bilder haben alle mit urbaner Kultur zu tun und verkörpern die Rythmen des städtischen Lebens in diversen Epochen, unterstrichen durch Musik von Magdrigalen bis zum Funk. Das ist eine Art, den Tanz outdoor zu begreifen: der Rythmus darf nie nachlassen. Von mittelaterlicher Farce bis zur Anspielung auf Obdachlose heute und andere urbane Albträume. Und man darf den Akteuren zusehen wie sie sich umkleiden und schminken.

    Senza Tempo. In “Capricho” demonstrieren sie was mit Straßentanz gemeint ist. Sie zeigen das Leben in Südeuropa das sich nun einmal im Freien abspielt. Es reicht daß die Sonne scheint und jede Häuserfront schillert mediterran. Es geht um das Verhältnis Mann-Frau aus weiblicher Sicht, um Jagdinstinkt und Arien. Neckisches Spiel der Verführung, mit oder Wasserschlauch. Und der Mensch ist eben doch ein (S)Tier. Mit seiner Fähigkeit, mit der Umgebung zu improvisieren und seinen eindringlichen Bildern gehört “Capricho” zum Besten was man outdoor tanzen kann. Und wenn sich professionelle Tänzer am Straßenpflaster reiben ist Emotion garantiert.

    Mossoux-Bonté. Ein belgisches Choreografenpaar das zum erstenmal für die Straße arbeitet. Vor ein paar Jahren waren sie Preisträger auf Mimos in Périgueux, natürlich mit einer Bühnenproduktion. Bei ihnen ist immer Psychologie und Philosofie im Spiel. So auch wenn die acht oder mehr Figuren aus dem Nichts auftauchen und sich nur minimal, durch etwas merkwürdige Kleidung und Gangart vom “normalen” Publikum unterscheiden. Halb sieht das aus wie eine Modenschau und jedem Couturier wäre mit diesem Casting ein Hip-Erfolg sicher. Nun bilden diese Gestalten gerne Paare mit einem Zuschauer, legen sich zu ihm ins Gras oder setzten sich zu jemand auf eine Bank und sind ihm sein Spiegelbild. Da es immer flott weiter geht, trifft man viele Menschen, die gar nicht auf eine Aufführung warteten. Und die gar nicht verstehen warum sich ein Herr im Anzug in einen Reiher verwandelt, nur weil ihn ein städtisches Blumenbeet magisch anzieht.

    Les Imagiques. Wann sieht man schon ein männliches Duo zusammen tanzen? E. Le Floch und M. Dufays haben fünf kurze Stücke im Programm, die sie, über den Tag verteilt, in der Telefonzelle, auf dem Parkplatz, im Bahnhof, in einer Warteschlange oder im Springbrunnen zeigen. Ihr Nährboden ist Contact improvisation. Und wenn sie in der Telefonzelle anfangen, glaubt man zunächst, ganz normale Telefonierer zu sehen. Da ist viel Kommunikation und Sinnlichkeit im Spiel, wie auch in den anderen Kurzstücken. Und Improvisation, Spiel mit der Umgebung. Entdeckt im Off von Chatillon und ein Juwel für jedes Festival.

    Olivier Bodin. In seinem neuen Stück, “Between”, werden die Tänzer gleichzeitig zu Musikern. Gespielt wird im Kreis, am besten auf Rasen, zur Not auch auf dem Parklatz. Das Temperament wird zärtlich, leicht, jugendlich. Helle Hosen und T-Shirts, Straßenschuhe. Und kleine Gongs etc. Ein Stück über Leichtigkeit, Schwung und  Zärtlichkeit in einem Lebensabschnitt in dem sich die Persönlichkeit formt. Gespielt im Kreis zwischen vier magischen Deiecken in denen die Instrumente hängen. Wieder ein Quartett, aber mit einem Nur-Musiker als fünfter Kolonne um an die Aufbruchstimmung liebesrevoluzzender Zeiten zu erinnnern, an Natur und New Age. Ein Meisterwerk.

    Las Malqueridas. Die ungeliebten. Mal wieder Spanien. Frauen und viel Bewegung, werfen von Getreide und Farbe. “Malqueridas” spielt mit uralten archetypischen Bewegungen, Ritualen, Arbeitsrythmen und Einkaufswagen. Wiederum im Kreis der bewegten Zuschauer, wiederum ein Genuß.

    Sol Pico. Und wieder Barcelona. Eine unglaublich gewagte Techno-Performance in Leder, in der männliche Sklaven die Frauen auf ihren Podien umherschieben. Frauen, die in Skistiefeln angenagelt und in Leder gekleidet ihre Lust tanzen. Alles Ironie? Der Titel “Dudoso valor artistico” scheint es so zu wollen, denn ist Sado-Maso Kunst? Das Hardcore-Ballett endet im Rollentausch - auch die Frauen wollen mal Untertan sein. Bei Sol Pico hat es schon immer geknistert, aber nun knallt es. Während Fura dels Baus langsam abbauen, baut Sol Pico auf. Irgendjemand aus Barcelona bingt immer full power.

    Theatre Zou mit “Axis.” Gerade enstanden, schon genial. Durch Zufall entdeckt im Off von Sotteville. Ein Trio mit einer Kurztrilogie aus Tanz und Kostümbild das an Oskar Schlemmer mehr als erinnert. Faßinierende Ästhetik von Kubismus bis Mythologie. Mysteriös, schamanisch und futuristisch zugleich. Da sind Tanz und Architektur nicht mehr von einander zutrennen. Auch für Kinder ein Riesenspaß da bunt und schrill.

    Pierre Doussaint. Er inszeniert in “Agogos” zwei weibliche Clowns die ihre Welt – die Schule derselben – erkunden. Ob auf der Straße oder auf der Bühne. Da ist mehr Clown als Tanz im Spiel. Und die Spielregeln des Lebens werden neu erfunden. Harmonisch und unversell.

    Marion Baty. Eine gestandene Choreografin die hier ein Solo für die Straße bringt. Sophie Chadefaux tanzt eine kurz- und rothaarige Gelsomina in der Luftkammer eines Traktorreifens. Der ist ihr Halt und Lebensraum. Die Figur ist so ausdrucksvoll als hätte Sophie bei Marceau studiert. Sie rührt das Publikum zu Tränen. Das einzige Solo in meiner (kleinen) Auswahl, und welch ein Auftritt!

    Redaktion: Thomas Hahn

    2000-12-15 | Nr. 29 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn