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  • Themen-Fokus :: Strassentheater

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    Ganz ohne Treten und Schlagen (wo niemand stirbt)

    Der Trend der Saison auf den Sommerfestivals war Brutalität, die Verletzlichkeit der Schönheit des menschlichen Körpers. Vom Festival d’Avignon bis VivaCité und Chalon dans la rue stellte die Presse wehklagend das finstere, pessimistische Element heraus und flehte nach etwas Schönem, Sanften. Die desillusionierte Linie existiert ja auch, und es dürfte sich hier um den Prozess der Verdauung eines gewissen 9/11 handeln. Gegen den Trend gibt es aber in der Straßenkunst eine Menge Kreationen der Saison, in denen humanistische Ideale, Harmonie, Schönheit und sogar Spaß den Ton angeben.

    Sieben Tänzerinnen bilden die Kompanie LMNO, die auch in ihrer zweiten Produktion von Solidarität unter Frauen in extremen Situationen erzählt. In einem Kleinlaster kommen sie angerauscht, werden von Trödlern zum Anhalten gezwungen. Stimmgewaltig steigen sie aus und tanzen ihre Freundschaft. Als corps de ballet formiert lesen sie uns aus der Zeitung vor, und durch ihre Augen wirkt das Tagesgeschehen ganz und gar absurd. Danach erinnern sie mit Liedern und Gießkannen an verlorene Hoffnung und Geliebte. Wir wären von ihrer Mischung aus Tanz und Mime, von ihrem feurig-poetischen Kontakt zu Asphalt und Publikum ebenso beeindruckt, hätten sie nicht ihre Figuren an Kleopatra, Mata Hari, Frida Kahlo, Camille Claudel u. a. verschrieben. Da scheint von Zeit zu Zeit die ganze Gruppe das Weh’ einer Einzigen auszutragen. Alle pudern sich weiß ein für Camille Claudel, singen ein Revolutionslied für Frida Kahlo. Leid und Freude, Exzentrik und Kampfgeist wechseln sich ab. lmno@wanadoo.fr

    Auch Männer können eine zärtliche Gruppe bilden! Théâtre Rouge, sonst in den Straßen unterwegs, ziehen ihre Kreise jetzt auch im Kreis. Sie tragen wieder ihre Jutekostüme mit Haltegriffen, die an Rugby erinnern (Trottoir 36). Thema sind wieder die Beziehungen untereinander und zum Publikum. Sanft, vertrauensvoll, wenn auch nicht ohne Konflikte. Es sind in „tObeOrnOttObewechOOsetObetOgetherOhOhOh“ dieselben kindlich spielerischen Wesen wie in „Avec fraternité“, die für Brüderlichkeit streiten. Der Unterschied ist, dass Théâtre Rouge für ihre Kreuzung aus Wettkampfteam und Streichelzoo nun auch eine stationäre Dramaturgie anbieten. www.theatre-rouge.org

    Ganz blumig auf Stelzen kommen Du bout des doigts daher – auf Fingerspitzen! Fast schon Barocktanz, in Kostümen, die Sommer, Winter, Herbst und Frühling darstellen, zu Vivaldis Vier Jahreszeiten. Noch so ein Bild des Glücks! Überwältigend in seiner Farbenpracht. Ein majestätisches, noch kurzes, fünfzehnminütiges Naturschauspiel, das sich bald weiter verzweigen wird. www.cieduboutdesdoigts.com

    Selbst aus Barcelona kommt ungewöhnlich Sanftes. Die Tänzer von Senza Tempo sind in „El Bosque de Marcela“ mit dem Radl da, steigen ab auf einer Wiese. Die gehört zu einem Anwesen. Es gibt einen Gastgeber in diesem Lustgarten, wo man Blindekuh spielt und Blumen wirft, als wär’s ein Tennismatch. Man kitzelt, kneift und lacht, lüpft die Röcke oder schlüpft darunter, spritzt mit der Wasserpistole, luftig leicht choreografiert. So viel spritzige Friedlichkeit ist einfach entwaffnend. Der Würfel auf dem Kopf des mondänen Hausherrn, das Löwenhafte der orangenen Röcke gehen auf die Jagd nach surrealistischen Eindrücken. Das ist im ersten Moment verblüffend, weil man aus Barcelona eine härtere Gangart gewöhnt ist. www.senzatempoteatrodanza.com

    „Lacher de clowns“  – Wehe, wenn sie losgelassen ! Tous à vos nez! heißt dementsprechend die Kompanie aus Cherbourg in der Normandie – An eure Nasen! Was so emphatisch klingt, ist in Wahrheit die Kunst der Selbstauflösung. Denn die etwa zehn Clowns bleiben nicht lange an dem ihnen zugewiesenen Ort. Schon dort bauen sie eine verspielte, zärtliche Beziehung zum Publikum auf, schenken aufgesammelte Blätter her oder herzen die eine oder den anderen. Dann strömen sie aus, verlieren sich in der Menge, ohne sich ganz aus den Augen zu verlieren. Wer sie nicht verfolgt hat, wird sie vielleicht gar nicht wahrnehmen, denn sie sind so sichtbar oder unsichtbar wie Vögel im Geäst. Außer, man hat ein feines Auge oder diese in weiße Lumpen gekleideten Träumer fangen gerade mit einem selbst ihr sensibles Spiel an, immer aus einer Position der Schwäche, die Gesichter halb geschminkt und leicht verschmiert, ein wenig, als seien sie einer psychiatrischen Anstalt entflohen. Lautlos inszenieren sie ihre Mini-Dramen untereinander, improvisieren mit Passanten und Umgebung. Das Auf(Unter-?)tauchen der Kompanie ist ein Geniestreich, wird doch immer öfter der Sinn einer wandernden Aufführung dadurch zerstört, dass einfach zu viele Zuschauer daran kleben und die Akteure deshalb doch wieder wie auf einer Bühne agieren. Hier ist es umgekehrt: Je mehr Volk unterwegs ist, umso mehr kann der Clownschwarm darin untergehen und schwimmen wie ein Fisch im Strom. Nach VivaCité tauchten sie auch in Chalon dans la rue auf, waren dort aber nicht einmal im Programm des Off verzeichnet. Vielleicht verstörten und amüsierten sie schon hier und da das Publikum auf einem Festival, ohne dass die Direktion sie überhaupt bemerkte? voixpublic@free.fr

    Sind die losgelassenen Clowns so fragil wie Papier, ist die neue Produktion von Theater Rue Piétonne ähnlich verwundbar. Die deutsch-französische Kompanie zeigt in „Kamikami“, welche magischen Kräfte die Kunst des Origami entfalten kann. Blumen, Drachen, Schmetterlinge und die ganze Bühne, alles aus Papier! Nach einer kurzen Origami-Vorführung beginnt die Geschichte des westlichen Salary-Man, der in einem Geflecht von japanischen Mythen, Ritualen und Magie den Boden unter den Füßen verliert und selbst zum Japaner wird. Die Langsamkeit von „Kamikami“ lässt viel Zeit zum Atmen, der Verzicht auf alle schrillen Töne ist wohltuend. Zen-Philosophie und Ökologie gehen Hand in Hand. Papier ist Natur! Sie verbrauchen auch keinen Strom für Scheinwerfer und sind leise, sodass das Publikum sie nur bemerkt, wenn es neugierig und sensibel ist. Dann aber wird es mehr als belohnt. theaterruepietonne.free.fr

    Nicht hell-, sondern dunkelgrau und trotzdem unterhaltsam ist ein Quartett namens Pied en sol. Sie tanzen in eleganten Anzügen und tragen rote Schuhe, bleiben brav haften auf einem Stück Straße, wo ihre Grimassen an expressionistisches Kino und Clowns erinnern oder an das schräge Wimmern einer gestrichenen Säge. Die Musik vom Band ist eher fröhlich, der Tanz lebhaft und fängt etwas vom Spaß am Absurden ein, wie wir das von Kusturicas Filmen kennen. Aber selbst zu indischer Musik falten sie ihre Körper perfekt, bieten mit „Filigrane fanfare“ dreißig intensive Minuten. Die Gesichter so schräg wie die Musik, schütteln sie ihren Tanz markant aus Schultern und Armen. www.piedensol.com

    Die Überraschung kam von einem anderen tanzenden Quartett. Auch der Hip-Hop wird flauschig. Indoor mit Kompanien wie Mayada, outdoor mit einer Entdeckung namens Vice versa. Ganz in weiß gekleidet, dazu Holzskulpturen aus Baumstämmen, afrikanisch inspiriert. Die Zusammensetzung des Quartetts ist typisch für die Szenen. Der Choreograf Luc Moka, ausgebildet bei so namhaften Größen des modernen afrikanischen Tanzes wie Koffi Koko, Elsa Wolliaston und Irène Tassembedo, nahm für die Kreation „A contre-fil“ ein asiatisches Breaker-Trio namens Asian B-Boys unter seine Fittiche. Mit dem Erfolg, diese in eine ganz sinnliche, filigrane, schwebende Tanzwelt zu entführen und Immigration als Chance zur Harmonie zu zeigen. moka.viceversa@free.fr

    Und Sol Pico, das Enfant terrible? Auch sie (zuletzt in Trottoir 38) kommt praktisch mit einem Familienprogramm. Dabei schienen wir zu Beginn Bomben zu hören und „La Divadivina“ spielt auf einem ausgebrannten Bus, im Schatten einer Kanone (Beitrag der Kompanie Los Demendez). Doch die wird zum Schluss nur eine Art Münchhausen durch die Lüfte schleudern. Da mischen sich Revue, Schlager, Stummfilm, grotesker Tanz, freche Kostüme. Die göttliche Diva steigt ironisch überhöht am Kran vom Himmel, eine Art Gasmaske im Gesicht. Sie sehnt sich nach normalem Leben, aber wo soll sie das finden, hat doch Sol Pico so skurrile Szenen wie bei Kusturica ers(p)onnen? Die Diva findet letztendlich ihren Lover, der noch dazu die Mutprobe des Kanonenflugs glänzend besteht. „La Divadivina“ ist weniger provokant als von Sol Pico gewohnt, bringt dafür wesentlich mehr Humor und Leichtigkeit. www.solpico.com

    Eine Harmonie auf Stelzen: Die französisch-portugiesische Teatro Ka (Trottoir 42) überzeugt auch mit ihrer neuen Produktion „UruborU“. Einfacher geht es nicht, und schöner auch nicht. Zu zweit spielen sie das Entstehen von Liebe zwischen Ihr und Ihm, auf Stelzen und im Clownskostüm, im Rhythmus von Swing und Charleston. Zum Aufwärmen bittet Er einige Zuschauer nach vorn, um sie so untreu wie möglich zu „zeichnen“. Er sieht ja selbst aus wie in Öl gemalt. Sie pflegt ihre Blumen und träumt von Flamenco. So amüsieren sie sich über unsere geheimen Wünsche und die Realität der Liebe, tiefsinnig wie Marceau, musikalisch und rhythmisch wie im Stummfilm. teatroka@vianw.pt

    Selbst das Feuer verlor seinen Schrecken, seine Machtgelüste. Die „Installation de feu“ der Kompanie Carabosse (die böse Fee aus Dornröschen) verzauberte den Festivalwald von VivaCité mit Skulpturen aus flackernden Blumentöpfen, glühenden und von Maschinisten zum Feuerspeien gebrachten Ofenrohren und Fackelketten zwischen Baumwipfeln; eine lodernde Landschaft kreierten sie für eine Nacht, als wär’s ein Streichelzoo aus Flammen, und inmitten des Flackerns brilliert ein Rockkonzert zwischen sardischer Tradition und Avantgarde. carabosse2@wanadoo.fr

    Natürlich handeln ebenso viele Kreationen der Saison von Tod und Totschlag, von Angst und Schrecken, von Konflikten, Zweifeln und Kulturschocks. Diese politisch direkteren oder absurden Stücke, von Kumulus, Osmosis, Metalovoice & Boilerhouse, Dakar und Odd Enjinears, Bash Street Company, Pan.Optikum und Titanick, Bucherscheinungen etc. schon beim nächsten Mal.

    Redaktion: Thomas Hahn

    2005-09-15 | Nr. 48 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn