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  • Szenen Regionen :: Frankreich

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    Globale Dezentralisierung

    Entscheidende Veränderungen bahnen sich an in Périgueux. Die Stadt, die letztendlich die Geschicke des Festivals Mimos bestimmt, hat den Vertrag mit dem künstlerischen Direktor Petr Bu nicht verlängert. Der Konflikt schwelte seit Jahren und Bu entwickelt jetzt eine Kooperation im Bereich der Mime zwischen Frankreich und China. Die künstlerische Leitung von Mimos liegt heute in den Händen von Chantal Achilly, der ehrgeizigen Leiterin des vom Staat geförderten Theaters von Périgueux, die natürlich allein kein Festivalprogramm erstellen kann und sich daher nach Ausschreibung die beratenden Dienste von Etienne Bonduelle sicherte, der in Paris das Centre National du Mime leitet und bereits auf Mimos einen gelungenen Abend mit jungen Kompanien vorstellte. Die Vorgaben der Stadt sind, wie bereits in früheren Trottoir-Ausgaben angedeutet, eine Verschiebung des Schwerpunktes in Richtung Strassentheater, Zirkus und Familienprogramm, was angeblich die Verbindung zur Bevölkerung stärken soll. Zu befürchten ist nun, dass Mimos zu einer Haltestelle im landesweiten Tourneezug des von der Stange gekauften Spektakels absteigen wird. Im August wissen wir mehr.

    Der kulturpolitische Kontext kann solch einen Abstieg eigentlich nur begünstigen. Das aktuelle Stichwort lautet Dezentralisierung der Verwaltung, was in der Kultur bedeutet, dass die Verfügung über grössere Teile der Budgets in die Hände von Regionen, Départements und Städten verlagert wird. Was unvermeidlich die künstlerische Recherche schwächen und « leichte » Kost favorisieren wird. Wozu brauchen wir künstlerische Recherche (die vor allem ein Pariser Publikum interessiert), fragt man sich in der Provinz. Postwendend investiert man in Boulevardtheater und Showbusiness. Beispiele gibt es bereits genügend. Kulturminister Jean-Jacques Aillagon kündigt an, dass der Staat sich aus der Förderung von Festivals « zurückziehen » wird, denen man keine « nationale Bedeutung » beimisst. Was das für Mimos bedeutet, sollte das Festival sich entscheiden, ein eher lokales Ereignis zu werden, bleibt abzuwarten.

     

    Clowns zwischen Tanz und Tradition

    Auffällig ist, dass sich immer mehr klassische Theaterbühnen für Kreationen aus dem Bereich Mime und Körpertheater öffnen und junge Kompanien sich daran versuchen. Das Genre hat den Ruch des Aussenseiters und des Exotischen in den letzten Jahren verloren. Wovon, in aller Unschuld, eine junge Kompanie namens Les Souliers rouges zeugt, die in « Motion & Motion » das Spiel von Verführung und Liebe durchkämmt. Was in manchen Szenen humorvoll und nett anzusehen ist, in anderen ziemlich unreif wirkt, aber vor allem davon zeugt, dass zwischen einer international erprobten Tänzerin (die Regisseurin Nadia Vadori) und einer Bande von Schauspielern und Mimen die Grenzen fallen, wie nun immer häufiger zwischen den Schulen von Jacques Lecoq, dem zeitgenössischen Tanz und dem Sprechtheater. Die Erfahrung mit dieser ad-hoc kreierten Kompanie unterstreicht, dass eine solide Ausbildung nötig ist, um nicht mimisch ins Stottern zu geraten. Aber anstatt junge Truppen zu entmutigen, die durchaus ihren Weg machen können, widmen wir Jubel wem Jubel gebührt. Den Eingeweiden zum Beispiel. So nämlich muss man übersetzen : Compagnie de l’Intestine. Das erste Mal begegnete ich der ausgebildeten Tänzerin und Schauspielerin Laetitia Angot im Off von Mimos, als sie wortlos alle Zuschauer in ihren Bann zog, da sie in einem rosa Kleid eine liebend verlorene Städterin in die Gassen der Altstadt kalligraphierte. Ein Jahr später und wiederum in rosa spielte sie indoor mit ihrem Partner Thomas Chopin das Drama der Zweierbeziehung. Vor und auf einem roten Sofa, akrobatisch und sarkastisch, und so auf den Punkt gebracht dass es allein vom Zuschauen weh tat und man am Ende schlotternd den Saal verliess. Und nun, wieder ein Jahr später, ist das Kleid noch immer rosa und dasselbe Sofa ist rot. Das Paar der Akrobaten spielt dasselbe Thema, aber auf befreiend humoristische Weise mit viel mehr Slapstick und noch immer genauso tief gehender Finesse. Selten gelingt es Künstlern, mit ein paar Gesten, mit solch genauer Analyse der Körpersprache, die Stereotypen des Männlichen und des Weiblichen im Beziehungsspiel offenzulegen. Und jede Geste ist eine kleines Meisterwerk. Da wird nicht geurteilt, weder ihr noch ihm die Schuld an der Krise zugeschoben. Die Erkenntnis der universellen Mechanismen des Sich-nicht-verstehens wirkt wie eine Katharsis. Diese neueste Version mit dem Titel « On verra demain » (Morgen sehen wir weiter) – drame burlesque – wird auf Mimos 2003 zu sehen sein. Und die erste, tragische Version bleibt im Repertoire der Kompanie, von der jetzt klar sein dürfte, warum sie nach den Eingeweiden benannt ist.

    Der Auftrittsort von L’Intestine war eine Clown- und Mimenschule, die sich vor kurzem zu einer Spielstätte dieser Genres mauserte. Sie nennt sich Le Samovar. Die Leitung liegt in den Händen des Clown und Mimen Franck Dinet, der dort auch das « Fach » Clown unterrichtet, genauso wie z.B. die völlig schrille Holländerin Pina Blankevoort oder in Sachen Gesang Marie-Claude Vallez vom Quatour Nomad, der traditionelle Gesangstechniken der ganzen Welt vermischt und natürlich perfekt beherrscht. Le Samovar bietet wenig Luxus, aber einen hohen Spassfaktor und versteckt sich in Bagnolet, einer Banlieue im Westen von Paris. Inzwischen treten hier auch Grössen wie Les Nouveaux Nez auf oder Storm mit seinem Dauerbrenner « Solo for two » (Trottoir Nr. 34). Les Nouveaux Nez überraschten mit einem klassischen Clown-Kanevas. Denn zuvor hatten sie sich gar über Shakespeare hergemacht. In « Mad ou Nomad » (kein Zusammenhang mit dem erwähnten Gesangsquartett, obwohl die vier Akteure der Truppe nicht nur begnadete Clowns, sondern auch perfekte Sänger, Musiker und Akrobaten sind). Klassisch also, das heisst vier Reisende in surrealistischen Situationen, viel Slapstick, Sprachenwirrwarr, Verwandlungen und traditionelle Gags in neuem Gewand. Ein Feuerwerk der Clownkunst. Les Nouveaux Nez bleiben die einzige Truppe westlich der Oder, die es mit der berühmten russischen Schule aufnehmen kann.

     

    Bauhaus gesungen

    Viele Künstler, die im Samovar auftreten sind multidisziplinär und haben keine Probleme mit der Verbindung verschiedener Genres. Doch es muss nicht immer fusion sein. Auch der Dialog zwischen den Diszplinen ist voller Spannung. Tanz, Kubismus, Gesang und Piano verbinden sich in « Vibrato corporis » der Compagnie Poursuite zu einem visuellen Liederzyklus. Die (deutsche) Sopranistin Dorothee Goll schmettert Eisler, Strawinsky, Bach, Mahler, Debussy u.a., so auch zwei Liedkreationen des Komponisten André Bon während die (französische) Choreografin und Tänzerin Geneviève Mazé zuerst unter dem Flügel hervorkriecht und dann über stilistische Objekte wie eine schwarz-weiss bemalte Radtrommel den Dialog mit der Sängerin und Alberta Alexandrescu aufnimmt. Der Funke springt über zwischen der preisgekrönten Pianistin rumänischer Herkunft und choreografierter Lyrik in Bauhaus-Gewand. Mazé ist bekannt als Choreografin der Compagnie Retouramont, die mit ungewöhnlichen choreografischen Initiativen bereits Auto- und Bahnbrücken betanzte, aber auch historische Stätten wie den Mont Saint-Michel. „Vibrato Corporis“ ist ein Liederabend, der die ganze Freiheit und Kontaktfreude der im Geiste schon immer dezentralisierten französischen Szene symbolisiert. 

     

    Afro-italiano-Latein

    Das war im Rahmen des Festivals « Dance Box » im japanischen Kulturzentrum Tenri im  Herzen von Paris, in dem auch eine absolute Kuriosität zu sehen war. Afra Crudo heisst diese italienische Tänzerin und Choreografin. Nach Ausbildung in klassischem Ballett, an der Schule von Pina Bausch und in Polen bei Grotowski persönlich verlegte sie sich auf Afrika und wurde prompt Tänzerin im Nationalbalett von Mali. Heute kreiert sie skurriles, schrilles Tanztheater und tritt neben Paris meistens in Polen auf. In « La Trahison de Bacchus » erfindet und spielt sie die Geschichte eines Eifersuchtsmordes an Dyonisos, präsentiert als futuristisches, antikes Ritual der Bakchen, begleitet von zwei afrikanischen Musikern. Kein Wunder, dass es hier impulsiv und orgiastisch zugeht wie bei Fellini. So wird aus Afro-Tanz, ohne dessen Kraft zu beschneiden, ein erzählerisches Mittel das diesen aus der Pflicht befreit, sich immerzu auf afrikanische Erde, Wurzeln oder Geister zu beziehen.

    In der nächsten Szene Frankreich u.a. Neues aus der Tango-Szene mit Sandra Rumolino und Japans Tango-Star Anna Saeki, die gerade in Paris eine neue CD aufgenommen hat.

     

    Redaktion: Thomas Hahn

    2003-06-15 | Nr. 39 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn