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    Im Jahre 1 vor der EXPO

    Große Ereignisse werfen ihre Scherze voraus. "Was ist ein Ar..h, mit dem man keine Beziehung mehr hat?" befragte Moderator Eckart von Hirschhausen sein Publikum. Die Antwort blieb unerraten und lag doch nah - Expo. Das Jahr 1 vor der Weltausstellung: In Hannovers Varieté GOP begann's heiter. Von Hirschhausen plaudert so elegant wie er zaubert, und hätte er beides etwas öfter elegant sein gelassen, wär seine Moderation perfekt gewesen.

    Um so stummer der Star des Januar-Programms, Peter Shub, Ex-Roncalli-Clown, amerikanischer Wahlhannoveraner. Der spulte seine Parade-Gags vom unsichtbaren Hund bis zum Dirigieren des Zuschauer-Chors fast schneller ab als man lachen kann und trieb im zweiten Teil des Programms  zwei Publikumsopfer per Kazoo-Fanfare zur Paarung. Stummfilmgrößen wie Buster Keaton ließen grüßen, als er ihnen die korrekte Balz vortanzte: urkomisch.

    Apropos Tanzen: Da steht eine neue Generation bereit, die Showbühnen zu erobern. Die Breakdance-Sequenzen von Kai Eikermann waren zwar nicht perfekt dem Drumherum angepaßt, dafür hätten sie auf jeder Straße oder HipHop-Bühne standhalten können. Rotierende Bauchmuskeln und Kopfkreisel mit Comedy verbrämt: erfrischend. Ähnliches galt für Jongleur Cotton McAloon, der im GOP wie zuvor bei der Mimuse Peter Shub flankierte. Der wirbelte mit Worten wie mit Bällen oder Keulen, sprach deutsch und jonglierte ostfriesich und versprühte den blondlockigen Charme, bei dem jede Schwiegermutter weiche Knie kriegt. Und doch: Gegen Altmeister Dieter Tasso kommt so schnell keiner an. Im Oktober verabschiedete sich der große Jongleur im GOP von den deutschen Bühnen, ihn zieht's ins laue Florida. Schade, schade.

    Doch der ballwerfende Nachwuchs naht: Vom 21. bis 24. Mai sollen in Hannover Tausende von Kugeln und Keulen fliegen. Im Kulturzentrum Faust, einer ehemaligen Bettfedernfabrik, steigt das bundes- oder gar europaweite Jonglierfestival. Für dreißig Mark ist man dabei, bei  Workshops, Open Stage und Public-Show, kann Partys feiern und sich gegenseitig die Bälle zuschmeißen. Mehr Infos bei Hardy Bochard, Tel. 0511/44 57 18 oder im Internet!

    Hochgeflogen auf ganz andere Art ist im letzten Jahr das Duo Marianne Iser & Thomas Duda, die im Herbst als beste Nachwuchskünstler Chanson beim Stimmtreff der Sänderakademie Hamburg ausgezeichnet wurden. Mit Isers expressiver Stimme, die sie laut Frankfurter Rundschau "bis an die Glasbruchkante hinaufdrehen kann", ironisch-bissigen Texten des hannoverschen Dada- (oder vielmehr Wowo-) Dichters Friedhelm Kändler und schwarzhumorisch-romantischen Eigenkompositionen bringen die zwei eine ganz eigene Note in die Chansonwelt. Ihr neues Programm hat am 18.4. im tak Premiere: "Alarm, oder ich komme" läßt Einbrüche und Ausbrüche miterleben, Regie führt Kändler.

    Daß der dazu noch Zeit hat: Hannovers geschliffenster Versebastler ist ja auch mit seinem irrwitzigen Reimwerk "Kröhlmann" performend unterwegs ist. Im März gründet er zudem ein Theater in Hannover, Kongreß soll es heißen und im Musik Club "Chicago" ein loses Domizil haben. Dorthin lädt Kändler am 7. März zum großen Wowo-Festival anläßlich seines dritten Wowo-Bandes: "WoWo jagt Dr. Ey". Am 8. März ist das Spektakel auch im GOP zu sehen, mitsamt Jo van Nelsen, Schall und Hauch, Alix Dudel, Marcus Jeroch, Iser/Duda usw. Zum kreativen Kreis um Kändler zählt auch die Sängerin mit wahrhaft voluminöser Stimme Ingrid Bensch, die am 6. Juni im Chicago mit "Adieu" Premiere feiert, ein Programm um den Abschied einer Sängerin. Wie schon bei "An sich bin ich eine Göttin" stammen alle Zwischentexte aus der Feder des Wowo-eten.

    Völlig anders, aber auch mit zunehmender Bekanntheit, präsentiert sich mit Oskar Ansull ein weiterer hiesiger Autor auf den Bühnen. Sein kabarettistisches Stück "Die gebratene Ameise" ist eine hintersinnige Reflexion über Arbeitslosigkeit und Muße; sein Programm über den Chanson-Dichter Klabund "Tango tönt durch Nacht und Flieder" besticht durch Intensität und Glaubwürdigkeit. Jetzt reist er im Künstlerhaus nach "Brooklyn, oder...", Premiere 20.2.

    Bis vor kurzem war Ansull noch mit der Hebebühne liiert. Die hat mit ihrer "Rudolf-Schock-Therapie" in Herz aller unverbesserlichen Fans von Liebesduetten und Heldentenören getroffen. Ihr Wunschkonzert hält, was es verspricht: radikal angewandte Volksmusik, Einblicke in die Abgründe, die sich auftun, wenn Hörerwünsche wirklich wahr werden. Und wer Kreisler ganz neu und doch getreu hören will, dem sei die CD der Hebebühne "Gelächter aus dem Hinterhalt" empfohlen, eine gelungene Interpretation von Bengt Kiene.

    Und wer sich ein Rundumvergüngen leisten möchte, der buche sich im Gasthaus Hahn ein: Im stillen Ottenstein bei Hameln wird Kulinarik mit großer Kleinkunst verbunden: Am 20. März findet beim II. Ottensteiner Theaterdinner zum 5-Gang-Menü wieder Show an allen Tischen statt. Am 20.2. gastieren Iser/Duda, am 3.3. präsentiert die Jazz-Balaleika Klamauk und Musikalität, anarchisches Musiktheater vom Feinsten; am 24.4. zeigen Kändler, Alix Dudel & Co. einen "Mischmasch" und Anfang Juni plant Markus Jeroch dort die Vorpremiere seines neuen Programms. Tel. & Fax: 0 52 86 - 3 02. Und wer den Flair von nächtlich und Tuchfühlung schätzt, wird freitags abends ab 23 Uhr im Foyer des Theater am Aegi fündig. Neben der neuen hannoverschen Garde (7. Orchester 12.2., Kändler 19.2., Iser/Duda 5.3.) verabreichen dort am 16.4. die Salonlöwen ihr Varieteegebäck aus a-capella und Comedy; am 7. Mai heißt's Der blonde Emil... macht ernst mit der hohen Schule der Gesangsparodie.

    Ach ja, wer singt oder schweigt, ist dieser Tage gut dran. So wie Niels, der als stummer "roter Faden" durch die Sportgala "Feuerwerk der Turnkunst" führte, mit imaginären Sturmböen kämpfte und mit seinem unglaublichen Schrägstand aufwartete. Im März macht er selbiges im GOP Hannover. Auch die Zauberplauderei hat Konjunktur, und wenn einer zudem noch aus dem Bauch heraus plaudert, kann's nur bergauf gehen. Zehn Wochen lang trickste sich Jan Mattheis erfolgreich durch die Jubiläumsshow des Luna in Dortmund, kreuzte den Januar über durch den sonnigen Südpazifik und ist im Juni im GOP Essen zu sehen - mitsamt seiner mehrfach preisgekrönten Manipulationsdarbietung.

    Hart war dagegen in diesem Herbst das Los des politischen Kabaretts: Ein Wahltag - und alles war anders, "und du stehst da mit deinem fertig gelernten Text". Kampferprobte Wortaufwiegler wie Dietrich Kittner kann das aber kaum erschüttern. "Den Schröder kenn' ich schon länger", droht Hannovers ältestgedienter Kabarettist und serviert seine "Mordsgaudi" prompt ganz neu in rotgrün. Zu Beginn erklingt die Internationale - laut Kittner neue Tagesschau-Erkennungsmelodie, denn, logisch, das rotgrüne Chaos ist ausgebrochen. Und während Stoiber mithilfe der bajuwarischen Befreiungsarmee vagabundierende notleidende Unternehmer in Erdhöhlen versteckt, suchen verzweifelte Zahnärzte vergeblich in Nigeria um Asyl nach. Da kann's dem Kabarettisten nostalgisch ums Herz werden, zumal sich Gestalten wie der Altkanzler selten finden. Wehmütig stimmt Kittner noch einmal das schwerbackige Nuschel-Lispeln des gewichtigen Oggersheimers an, das ihm 16 Jahre lang sichere Lacher bescherte, und zitiert den wahren Kernsatz Kohl'schen Denkens: "Die Wirklichkeit ist ja doch eben anders als die Realität". Doch solange Gestalten nachwachsen wie Wirtschaftsminister Werner Müller, geht der Stoff zum Lästern nicht aus: Der hat "zuviel Sozialismus in Deutschland" entdeckt - nach 16 Jahren CDU-Herrschaft: "Da gehört schon was dazu, Helmut Kohl als rote Socke zu entlarven", freut sich der Dietrich. Und zwischen ausführlicher Umrechnung der Steuerreform in Bratwürste und Kaviar hat Kittner nette Schlenker auf Lager: "Bücher, ja? Wer kennt noch Bücher? Diese Dinger zum Blättern? So wie Internet, bloß ohne Strom!?" Schön, daß wir noch erleben durften, daß Kittner sein Programm renovieren mußte: Das hatte Biß, Witz und Schärfe. Am 12.-14., 18.-21., 23.3. im tak.

    Und mit dem tak, Theater am Küchengarten, beginnt auch die Nachlese und Vorschau in Stichworten, denn Hannovers pralle Szene paßt wieder nicht auf zwei schnöde Seiten: Im Theater am Küchengarten gastieren im Frühjahr nicht nur die renommierten Häupter von Voltz & Schmitz über Lawatsch bis Schroth: Es wird zudem am 9. Juni der diesjährige Gaul von Niedersachsen an Volker Pispers verliehen. und für den pointenreichen Provokateur gilt wie für seinen Vorgänger Georg Schramm: Wenn einer den Gaul verdient hat, dann der.

    Und vielleicht noch Erwin Grosche aus Paderborn, der Rasenmähen zur Kampfhandlung und Puddingteilchen zur Schöpfungsfrage macht. Er gehörte zu den stilleren Highlights der Mimuse '98, die so einige Entdeckungen bot. Arthur Senkrecht, der schüchterne Hüne, zeigte im Rahmen der Gala zwar nicht nur gewolltes Ungeschick, aber fällt eindeutig in die Kategoie 'hat was'. Massimo Rocchi bewies sein abendfüllendes Können als hochamüsanter Plauderer; "Schneiderlein" Sinasi Dikmen stichelte witzig in die wunden Punkte des Multi-Kulti-Daseins. Und von Fafa, der ulkigen Radio-Süchtigen mit Duschhaube und Wollsocken, hätte man gern mehr gesehen als die kurze Gala-Nummer. Desimo und die Plebsbüttel hatten das erwartet brillante Heimspiel; sonst gab's viel Präsentables, aber der ganz große Funke sprang nicht über.

    Guter Nachwuchs ist halt wie die Nadel im Heuhaufen. Die Werkstatt Galerie Calenberg macht sich alljährlich ans Sortieren. Bei den Calenberger Kabarettwochen, diesmal vom 4.2. bis 21.3., präsentiert sie zwischen prominenteren Nasen wie Thomas Philipzen (5./6.2.) und Kabarett A-Z (14.2.) einen Nachwuchswettbewerb (15.2.) sowie dessen Vorjahrssieger: Rudolf Linder sinniert in "Fanta - was?" über die allzumenschliche Vorstellungskraft. Auch Matthias Brodowy übt sich noch im Profitum, mit "Botschafter zwischen den Zeilen" feiert der junge Hannoveraner am 19.3. seine zweite Premiere. Ansonsten freuen wir uns alle auf den Sommer, wenn Frans Custer wieder samt Köfferchen durch Herrenhausens Parkanlagen zieht: Er ist das Maskottchen beim Kleinen Fest im Großen Garten, der einzige Künstler, der schon für Hannovers so schönes wie immer ausgebuchtes Freiluft-Kleinkunstspektakel feststeht. Und die Termine, alle im Juli: 9.-11., 15.-18., 22.-25., ab 19 Uhr. Viel Sonne uns allen, wünscht

    Redaktion: Evelyn Beyer

     

    1999-03-15 | Nr. 22 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer