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  • Szenen Regionen :: Frankreich

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    Kreolische Spezialitäten

    Ganz „typisch französisch“ ist eine Szene, die außerhalb des Landes kaum einmal Beachtung findet, aber eben doch in keinem anderen Land so existieren könnte. Gemeint ist ein besonders lebhaftes, feuriges Tanztheater, sehr modern in seiner Ausdrucksweise, aber doch ein Erbe der kreolischen Tradition der Karibik. Und immer ist Live-Musik dabei, Humor und viel Spaß für Zuschauer jeden Alters, von vier bis hundertvier. Was diese kreolischen Choreografinnen gemeinsam haben, ist denn auch das Bewusstsein, ihre Stücke eventuell unter spartanischen Bedingungen aufführen zu müssen und zu wollen. Vielleicht ist es auch nur unterbewusst die Kenntnis der Lebensbedingungen in Regionen, die der Macht der Natur stärker ausgeliefert sind als Europa. Im Ergebnis sind die Produktionen leicht zu transportieren, brauchen wenig technische Ausrüstung und begnügen sich, wenn nötig, mit kleineren Bühnen. Dem Spaß und der Energie tut das gewiss keinen Abbruch.

    Ob sie nun aus Martinique, Guadeloupe, Französisch-Guyana oder La Réunion kommen: die Kompanien haben alle ein Standbein in Paris. Anders geht es nicht. Allen voran die Tanztruppe Dife Kako. Das ist kreolisch und bedeutet ungefähr „es kocht“. Gründerin und Choreografin der Kompanie ist Chantal Loïal, bekannt als Solistin der Kompanie von José Montalvo. Dort ist sie eine Art tanzendes Piktogramm, dank ihres ausufernd swingenden Hinterteils. In den Stücken von Dife Kako steht sie aber nicht auf der Bühne. Sie entwickelt ihr eigenes Konzept, eine neue Tanzsprache aus karibischen Elementen mit afrikanischen Wurzeln und Hip-Hop. So sind in der neuen Produktion „Zandoli pa tini pat“ („die kleinen Eidechsen haben keine Füße“) auch ein Breaker und weibliche Hip-Hopper dabei, die sich in Insekten, Schmetterlinge, Vögel und andere halbmenschliche Kreaturen verwandeln. Und wir begegnen einer umwerfenden Neugeburt von Josephine Baker. Es geht einerseits um die Kolonialgeschichte, andererseits um Aktuelles, und zwar einen Umweltskandal. Denn die so reiche Natur der französischen Antillen ist durch Pestizide verseucht und die Erkrankungen häufen sich in der Bevölkerung. Einen Vortrag über Krebs ersparen sie uns aber. Stattdessen tritt die falsche Baker mit einem Gürtel verdorbener Bananen auf und man freut sich über den Gag. Und dann erst dieser Sänger, der nicht Gold in der Kehle hat, sondern Rum und Vanille! Loïal schafft es tatsächlich, dass die Techniken des Hip-Hop, wie das Pointing, wie eine Verlängerung der afro-karibischen Tradition erscheinen. Was sie kulturgeschichtlich ja auch sind, aber immer den direkten Weg zu ihren afrikanischen Wurzeln suchend und die Karibik links liegenlassend. Letztendlich kommt man sich vor wie in einer modernen, getanzten Fabel. Ist’s der Einfluss von Lafontaine? Nebenbei hat Dife Kako auch einen rein musikalischen Ableger und spielt in Paris regelmäßig zum Ball auf. Eine großartige CD liegt ebenfalls vor, sie heißt „Bal Konser“ (www.difekako.com).

    Auch Norma Claire aus Guyana hat ein neues Stück. In ihrem Stil, den sie als zeitgenössisch afro-kreolisch definiert, ist aber auch Platz für stillere, poetische Töne wie in „Va, vis“ („geh‘ und leb‘“), ein Duo, das sie mit ihrem Sohn tanzt. Der ist Hip-Hopper, und auf der Bühne spielen beide ihre Beziehung durch, und das basierend auf einer Kreolität, in der Kommunikation manchmal auch im Alltag mehr durch Gesten und den Körper als durch Worte stattfindet. Dabei begleiten sie in „Va, vis“ zwei Musiker mit Perkussion und Kora (www.compagnienormaclaire.com).

    Die Insel La Réunion liegt vor Madagaskar im Indischen Ozean und unterliegt einigen asiatischen Einflüssen. Zuerst aber wurden auch hier Sklaven afrikanischer Herkunft über die Plantagen getrieben. Zwischen La Réunion und Paris arbeitet die Kompanie Artmayage in ähnlichem Geist wie Dife Kako. Die Choreografin Florence Boyer kreiert einen zeitgenössischen kreolischen Tanz, basierend auf den traditionellen Stilen ihrer Heimat, Séga, Maloya und Moring. Die mischt sie mit Hip-Hop und zeitgenössischem Tanz der westlichen Schule. Das aktuelle Stück der Kompanie heißt denn auch „Ma métisse“. Der Inhalt greift auf lokale Tradition zurück. Auf Sagen etwa, wenn da von Kalla die Rede ist, der Figur der bösen Großmutter, die heraufbeschworen wird, wenn es gilt, rebellische Kinder einzuschüchtern. Aber Boyer hat auch Erfahrung als Ballerina, Voltigeuse und Kaskadeurin sowie eine militärische Kampfausbildung. So gehört sie zu einer Generation, die aus Stilen diverser Horizonte eine neue, eigene Tanzsprache entwickelt. Genauso lief das ja auch historisch mit der kreolischen Sprache. „Ma métisse“ hat daher auch diesen Schwung, den Sex-Appeal und die Kraft einer Kultur, in deren Zentrum die Musik steht. In „Ma métisse“ wirbeln bildschöne Tänzerinnen wie Kinder, die Mutter schlägt Rad und die Breaker laufen auf den Händen. So entsteht mit einfachsten Mitteln eine Welt der Geister und Legenden, aber die Tänzer bleiben sie selbst. Boyer nutzt nur deren persönliche Energie und keine Effekte (http://www.myspace.com/artmayage).

    Viel üppiger ausgestattet und dyonisischer ist manches Stück der Tanztheaterkompanie Talipot. Auch sie kommt von La Réunion. Der Choreograf und Regisseur Philippe Pelen-Baldini setzt sich explizit mit der Kulturgeschichte der Insel auseinander. In „Kalla le feu“ schuf er eine Märchenwelt umwerfend schöner, raffinierter Bilder, bevölkert von Fabelwesen zwischen Leben und Tod, Mythos und Magie. Die Mimen von Talipot sind gleichzeitig exzellente Sänger und Musiker, sodass sie auch eine CD veröffentlicht haben. In der neuen Kreation der Truppe dreht sich alles um die Ravanne, die Handtrommel, die von Ostafrika bis Indien verbreitet ist. In „Ma ravan“, vorgestellt im Off des Avignon-Festivals 2008, sind alle Tänzer Männer. Sie spielen aber auch Theater und singen. Wieder geht es um die Beziehung zur Natur, aber das Ambiente ist rauer, kämpferischer, und die Bühne absolut schlicht. So leben sie ein Musikritual, in dem sie die Geister der Verstorbenen beschwören. Es sind wegen Rebellion ermordete Sklaven. Gesang und Tanz packen den Zuschauer direkt und können manchen Schauder hervorrufen. Kein Wunder ist es, dass der Name der Kompanie auf eine besonders majestätische Palmenart verweist, die als Kulturschatz verehrt wird (www.theatretalipot.com, www.myspace.com/theatretalipot).

    Wer sich auf ganz andere Art amüsieren will, der kann sich im Internet die Videos des absurden Alltagskünstlers Pierre Osawa ansehen. Der Enkel eines japanischen Großvaters gehört in Frankreich zu den aktuellen Stars auf dailymotion. Irgendwann kam ihm die Idee, dass Objekte des Alltags, ob materiell oder virtuell, auch menschliche Größe erlangen könnten. So macht er sich selbst zu einem wandelnden Metro-Ticket, Virus, einer Chip-Karte, einem Brief, einer SMS oder einem Radarkasten. „Objets humains“ nennt er diese, und obwohl Vorbilder für seine Aktionen im Straßentheater reichlich vorhanden sind, entwickelt er weniger eine ständige Präsenz auf der Straße oder in der Metro als ein Video-Endprodukt, das sich im Internet jederzeit und überall abrufen lässt. Inzwischen hat er seine eigene Firma gegründet, die seine Videos produziert. In Osawas Happenings steckt ein Surrealismus wie bei Dali, ein Humor wie bei Monty Python und letztendlich, weil es ja auf Film hinausläuft, etwas von der französischen Tradition Jacques Tatis. Aber seine „menschlichen Objekte“ zeigen geradezu, wie sehr die kleinen Originale, die unsere Brieftaschen und Computer bevölkern, im Grunde un-menschlich sind (www.dailymotion.com/pierreosawa).

    Osawa hätte so einiges zu teilen mit Chantal Loïal. Denn sein erster, halb geglückter Versuch war ein Sketch, in dem er als genetisch modifizierte Taube, etwa zwei Meter hoch bzw. lang, die Straßen unsicher machte. In „Zandoli pa tini pat“ von Dife Kako stehen dagegen vier aufziehbare, zwitschernde Kunstvögel am Bühnenrand. Sie vertreten die heile Welt, in der noch nichts modifiziert ist, weder genetisch noch von Pestiziden. Osawa und Loïal spielen gekonnt mit der Grenze zum Kitsch. Und sie wenden sich, wie auch Norma Claire, Artmayage und Talipot, an Zuschauer jeden Alters.

    Redaktion: Thomas Hahn

    2009-03-15 | Nr. 62 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn