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    Pantomimen Festival in Berlin: MIME>BERLIN 2017




    artbild_610_Radim_Vizvary_P
    Gute Nachrichten: langsam bewegt sich was im Bereich Mime/Pantomime!

    Im März fand in Berlin ein internationales Pantomime Festival statt: MIME>BERLIN 2017 ist das erste seiner Art, das sich in Zukunft hoffentlich noch oft wiederholen wird.
    Die Organisatoren Eric Wilcox, Jan Romberg und Lukasz Szydlik haben ordentlich was auf die Beine gestellt. Am Festival nahmen Künstler aus vielen Ländern teil; so gab es Produktionen und Co-Produktionen aus Tschechien, Italien, Frankreich, Polen, Rumänien, USA, Russland und Deutschland.
    Jan Romberg koordinierte bereits erfolgreich das Internationale Pantomime Theater Festival Dresden. Nun brachte er die Idee und viele der Künstler auch in die Hauptstadt, unterstützt von der Europäischen Union. Das Festival bestand aus Workshops, Ensemble- und Soloabenden, einem Symposium und einer großen Abschlussgala mit Mixed-Show. Auf der kleinen Bühne des alternativen Kunsthauses Acud waren während einer Woche täglich eine oder mehrere Produktionen zu sehen; wir berichten von den herausragendsten.


    Der tschechische Mime Radim Vizvary...

    ...eröffnete das Festival mit seinem Solo. Er spielte größtenteils klassische, weißgesichtige Pantomime; zeigte alles, was man in einer Mimenausbildung lernen kann: Von Pierrot über artbild_450_Radim_Vizvary_Seinen komischen Stierkampf bis hin zu Marceaus Nummer David und Goliath, welche er sehr lebendig und frisch inter- pretierte. Radim Vizvary spielt technisch sehr sauber und ist präsent und ausdrucksstark; es macht viel Freude ihm zuzusehen.
    Seine schwächste Szene war die, in der er eine Frau spielte. Hier verlor sich der versierte Mime leider in einer überaus klischeehaften Frauendarstellung in der vom Trippelgang, über Schönheitspflege bis zum naiv-koketten Posieren alles dabei war, was Männer in Frauenkleidern gerne tun. Dies gipfelte - wie kann es anders sein - in einer Strip-Nummer, die damit endete, dass die Stripperin sich erst ihrer Kleider, dann ihrer Innereien entledigte. Nunja.
    Als er das zweite mal ein Kleid anzog, spielte er eine Butoh-Nummer und zwar überaus poetisch. Hier ergaben sein Spiel und das stimmig gesetzte Licht fantastische Bilder. 
    artbild_250_Radim_Vizvary_SDas Publikum amüsierte sich köstlich, als er einen Jungen spielte, der die Masturbation für sich ent- deckte und als Höhepunkt Joghurt durch die Gegend flog. 
    Die einzelnen Nummern seines Solos muten - bis auf einige Visual Comedy Sequenzen - eher traditionell an. Radim Vizvary setzt zwar keine neuen Maßstäbe, erfüllt dafür aber die bisherigen ganz wunderbar. Ein schöner Einstieg ins Mimen-Festival!

    Hier der Trailer des Solos, der diesen Abend visuell zusammenfasst.



    Das Symposium Geschichte und Zukunft der Pantomime...

    ...veranstaltete MIME>BERLIN Pantomaniacs 2017 gemeinsam mit dem Mime Centrum Berlin des Internationalen Theater Instituts (ITI), deutsches Zentrum. Das Mime Centrum Berlin ist einer der wenigen Anlaufpunkte für Mimen in Berlin. Es bietet tägliches Training, Workshops und eine riesige Mediathek, in der es teils uralte Videoaufnahmen namhafter Mimen oder vergriffene Fachbücher zu bewundern gibt. In den wunderschönen Räumen des Mime Centrums im Kunsthaus Bethanien fand das Symposium statt. Ein multimedialer Vortrag des tschechischen Mimen Alexej Bycek zur Herkunft der Mime eröffnete den Abend. Bycek arbeitet derzeit an seiner Doktorarbeit zum Thema und so ist es nicht verwunderlich, dass der Vortag zwar inhaltlich gehaltvoll und interessant, die Vortragsweise jedoch leider universitär-trocken und trotz einiger Fotoprojektionen wenig unterhaltsam war. Immerhin konnte man spüren, dass der Vortragende sein Thema liebt. Das tat auch die zweite Vortragende Maya Brosch. Sie sprach vom Lebensweg ihres Lehrers Etienne Decroux und reihte Zitate und Wirkungsstätten aneinander, was leider eher anmutete wie eine ehrenvolle Gedenk- oder Grabesrede, denn ein inspirierender Vortrag. Ein bißchen mehr Lebendigkeit, Interaktion, Gefühl für das Publikum hätte man von Performern erwarten können, auch wenn diese normalerweise eher wortlos agieren. Der anschliessend geplante Austausch zum Thema Zukunft der Pantomime kam nicht zustande, da die Moderation das Zepter nicht wirklich in die Hand nahm und letztlich nur um Fragen an die Vortragenden gebeten wurde. So blieb dieser Abend im Bereich „Theorie“ der Pantomime leider ein wenig enttäuschend.


    Sehr überraschend war der Abend, an dem Alexej Bycek vom MimeClub (CZ)...

    ... Reinhard Heydrich spielte, den Geige-spielenden SS-Führer, Massenmörder und Organisator des Holocausts. 
    artbild_450_HeydrichBycek spielte solo und wurde von einem Geiger begleitet. Dieser trug maßgeblich zur gewollt gedrückten Stimmung bei, spielte mal die deutsche National- hymne, mal jiddische Lieder. Bevor die Vorstellung begann, standen die beiden still ins Publikum blickend einige Minuten da. Das war ungewöhnlich, passte jedoch sehr gut zu der ernsthaften, tiefen und düsteren Atmosphäre die sich durch Spiel und Thema hernach verbreiten würden.
    Anfangs arbeitete Bycek sehr performativ, ohne roten Faden, was irritierte: Die Bewegungen des Heydrich wirkten wie sportlich militärische Übungen, auf die man sich selbst einen Reim machen musste. Doch dann nahm die Vorstellung auf bedrohliche Art Fahrt auf, so dass einem das Unbehagen den Rücken hoch kroch. Alexej Bycek schaffte es wortlos die Zuschauer zu degradieren und ein Gefühl der Beklommenheit auszulösen, so als gehöre sie zu einer Gruppe ihm ausgelieferter Menschen. Er spielte einen unberechenbaren Hochstatus, der sich mal der Musik, mal dem Quälen von Menschen widmete. Er nahm Zuschauern die Stühle weg und traktierte diese dann. Das Gefühl „Du kannst jederzeit der Nächste sein" und das hilflos Ausgeliefertsein liessen Gedanken an Konzentrationslager entstehen und das Publikum still werden. 
    Mit seinem Stück Heydrich gelingt es Bycek Bilder zu schaffen, die die Bildsprache der Nazizeit wiedergeben. Das Stück lässt einen betroffen, mit bitterem Gefühl zurück. Der Darsteller schafft das, was gutes Theater eben macht: er berührt sein Publikum. Nach der Vorstellung wollten die Leute nicht so recht gehen; überall fanden sich Grüppchen diskutierender Leute zusammen. Harter Stoff, der verarbeitet werden muss.
    Fazit: Auch wenn es eingangs einige unklare oder überflüssige Sequenzen gab, so ist die Intensität, die der Darsteller mit einfachen Mitteln erzeugt großes Kino. Hier ein Videozusammenschnitt, der leider die drückende Stimmung nicht ganz wieder zugeben vermag.

    Video: Heydrich 
    
     
    
     :VideoClip 
    

    Eine interessante europäische Kooperation haben die Theater Mimenbühne Dresden, Mime Prag, Bottega aus Rom sowie die Organisation Parada Romania entwickelt. artbild_250_Marian_MileaUnterstützt durch das internationale Netzwerk Undercreative brachten sie Human Revolutions auf die Bühne. Hierfür entwickelten sie Szenen zu bekannten Persönlichkeiten aus den teilnehmenden Ländern: Franz Kafka, Vaclav Havel, Caspar David Friedrich, Leonardo da Vinci. Die Sequenzen waren von ihrer Qualität her sehr unterschiedlich, so fielen die beiden historisch angelegten Teile weit hinter die anderen zurück. Besonders herausragend war die kafkaeske Szene in der ein Mann auf ein repressives System stiess. Man teilte die Verwunderung und das ungläubige Lachen der Figur, die gespielt wurde vom genial präsenten Clown Marian Milea (Bild) aus Bukarest, Rumänien. Ein großes Talent!


    Der Höhepunkt des Festivals war definitiv der Abend Visual Short Stories des Duos Mimikry, Nicolas Rocher und Elias Elastisch. Mit letzterem haben wir in der Ausgabe Trottoir  (01|2017) ein ausführliches Interview geführt. Der Abend sprühte nur so vor Präsenz, das Publikum kam aus dem Lachen nicht heraus. Dass die beiden keine Lust mehr haben, ewig gleichförmige Pantomime wiederzukäuen, zeigten sie gleich am Anfang als ein artbild_450_Mimikry_Nicolaskitschiger Pantomime im Ringel-Shirt mit weißen Handschuhen von einem Missetäter gemeuchelt wurde. Ihr Abend war abwechs-lungsreich: Sie gestalten selbst die Übergänge zwischen den Szenen unterhalt- sam, so dass sogar Umzugspausen einen Heidenspaß machten. 
    Mimikry zeigen aktuelle Geschichten mit einer zeitgemäßen, nonver- balen Sprache in teils hohem Tempo und erinnern damit eher an Zeichentrickfilme, statt an oftgesehene zähe Mimen-Poesie mit wehmütigem Blick. 

    Wunderschön die Szene in der eine Frau gestalkt wird, filmisch gestaltet mit einem pantomimischen Splitscreen. Auch das Beerdigungsinstitut, dass auf - frisch verstorbene - Kundschaft wartet, der Thriller um aus dem Ruder gelaufene Tierversuche im Hochsicher- heitslabor - oder eine moderne Rapunzel-Adaption, in der die Namensgeberin mit ihren unendlichen Haarmassen zu kämpfen hat - allesamt ein großer Spaß! Dabei stimmt das Duo auch nachdenklichere Töne an, wenn es zum Beispiel einen stressgeplagten Businessman nach einer Nahtod-Erfahrung umdenken lässt. Jede Bewegung ist klar gesetzt, auch in Details finden die beiden Humor und ihre Gefühle und Gedanken lassen sich ganz einfach lesen. Schön am Duo Mimikry ist, dass ihr frischer Wind die verstaubte Hochkultur-Anmutung, die die Pantomime umgibt weggefegt. Die Stücke sind thematisch und durch die Anpassung an heutige Sehgewohnheiten auch der neuen Generation zugänglich. Wenn Pantomime sich so weiterentwickelt - dann steht ihr eine große Zukunft bevor!
    Hier ein Mitschnitt ihres Auftrittes auf dem Festival.

    Vimeo Video: Duo Mimikry - Visual Short Stories


    :VideoClip

    Den Abschluss des Festivals bildete eine Gala an der über 20 Künstler teilnahmen. Ein wunderbarer Abend im bis unter die Decke voll gepackten kleinen Theaterraum des Acud. Die pantomimischen Darstellungen so unterschiedlich wie sie sein können: Von hoch professionell, berührend unterhaltsam und technisch akkurat bis hin zu „Was machen die da?“. Ein Blick in´s Programm verrät: Auch Studenten durften sich hier ausprobieren. Das ist zwar nett für die Studenten, hätte es aber nicht gebraucht. Tiefpunkt des Abends: Ein Mann, der sich ein T-Shirt über den Kopf gezogen hat und sich nicht enden wollend bedeutungsschwanger darin windet. 

    Gewohnt gut dagegen sind die Mime Altstars Wolfram von Bodecker und Alexander Neander mit einer Szene am Bahnhof: Ein Teenager und eine Oma treffen sich und finden trotz anfänglicher Differenzen einen Weg zueinander. Absolut sehenswert!

    Ansonsten bleibt die Szene von Silent Rocco in Erinnerung: Ein Partygast hält ein Glas Wasser, er versinkt darin, es wird zum Ozean, er trifft Meeres-wesen. Die Wasserbewegungen sind technisch bril- liant, die Geschichte hat Sogwirkung. Rocco nimmt einen mit in die Unterwasserwelt. Magisch!

    Hier Silent Rocco im Wasserglas.



    :VideoClip


    Auch wenn es ein paar Produktionen gab, die noch Luft nach oben haben, so überwiegt der gute Eindruck: Das MIME>BERLIN 2017 ist ein gelungenes Festival mit vielen tollen Künstlern und inspirierender guter Stimmung. Hoffentlich findet es 2018 wieder statt. Wir werden berichten…

    Redaktion: Kassandra Knebel


    Weblinks für Mimen: 
    MIME>BERLIN Festival: Mime>Berlin
    Mimecentrum Berlin des internationalen Theaterinstituts: Mimecentrum
    Das internationale Künstlernetzwerk Undercreative: Undercreative


    Bildnachweis:
    Radim Vizvary Foto: Anna Balcerzak
    Alexej Bycek / Mime Club (CZ): Promo Foto Festival
    Mimikry Nicolas Rocher und Elias Elastisch Foto: Anna Balcerzak
    Silent Rocco Foto: Sikora Agnieszka
    Marian Milea
    Foto: Anna Balcerzak


    2017-05-02 | Nr. 95 | Weitere Artikel von: Kassandra Knebel