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  • Szenen Regionen :: Hannover

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    Wuchere noch, wer kann

    In schlechten Zeiten kramen die Städte auch lange vernachlässigte Pfunde hervor, um damit zu wuchern. Und da die Orangerie in Hannovers großem Barockgarten ein zwar nicht ganz leicht zu bespielendes, aber doch ziemlich repräsentatives Veranstaltungshaus ist, kam Hannover in diesem Jahr nicht nur in den Genuss schon der zweiten „Winterfestwochen Herrenhausen“, sondern erlebt auch im kommenden Herbst sein erstes Hannoversches Kabarett-Festival. Zwar gibt es hier seit vielen Jahren im Norden der Stadt die Mimuse, die sich Norddeutschlands größtes Kabarett- und Kleinkunstfestival nennt und auch in diesem Jahr wieder mit vielen ausverkauften Highlights aufwarten konnte: Einem ziemlich großartigen „Maxi-Mix“ als Auftakt, mit Peter Shub und der unglaublich schrägen A-cappella-Gruppe U-Bahn-Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern, die mit abgedrehten Klamotten und grandios gesungenen Nummern jeden Saal aufrollen; es folgten viele ausverkaufte Auftritte und ein ziemlich gelungener Versuch, Volker Pispers und Armin Töpel miteinander auftreten zu lassen. Aber diese monatelange Reihe ist nun mal in Langenhagen, und auch wenn der Flughafen in Langenhagen Hannover Airport heißt, ist die Mimuse in Langenhagen noch lange nicht das Hannover Festival. So treten nun geballt vom 14. bis 20. September in der altehrwürdigen, mit 500 Plätzen versehenen Orangerie Herrenhausen Richard Rogler (14.), Jochen Malmsheimer (15.), Hagen Rether (16.), Urban Priol (19.) und Volker Pispers (20.) an, organisiert von Hannovers Kabarettbühne Theater am Küchengarten. Die Feuertaufe als kabarettistischer Veranstaltungsort hat die Orangerie ja nun in den Winterfestwochen bestanden, „Eure Mütter“ brachten sie zum Toben, auch wenn die meisten Besucher deren Starnummer, das absurd-witzige Synchron-Haarewaschen, schon kannten. Immerhin hatten sie einen zweiten Abräumer im Gepäck: Chartschnulzen im Pseudo-Hip-Hop-Stil, superlustig und musikalisch originell. Auch der zauberplaudernde Lokalmatador Desimo mit Solo-Programm und Womedy gastierten erfolgreich in der Orangerie.

    Hannover hat damit eine größere Kabarett- und Comedy-Bühne mehr. Was nicht alle freut. Denn der Zuschauer an sich ist ein rares Wesen geworden, auch wenn der Kabarettbereich noch relativ gut besucht ist. Volle Häuser gab’s wieder bei fernsehbekannten Namen wie Priol oder natürlich dem genialen Georg Schramm; schwerer wird’s darüber hinaus. Selbst bei Hannovers Altmeister Dietrich Kittner, traditionell weitgehend aus dem Fernsehen verbannt, zeigt das Stammpublikum Bröckeltendenzen. Ihm überreichte das TaK in diesem Jahr den Ehren-Gaul für sein Lebenswerk, sehr angemessen hier in Hannover (Das Fohlen von Niedersachsen, der Nachwuchspreis des TaK ging diesmal an Claus von Wagner). Kittners neues Programm schüttelt er sozusagen aus dem Ärmel, verbindet aktuell Aufgelesenes mit bereits bewährten Pointen. Das tut der Lebendigkeit gut, wenn auch der Schliff leidet und nicht alle satirischen Pfeile so ins Schwarze treffen wie der Zahlenvergleich zwischen Entlassungen und Unternehmensgewinnen: „Manche Betriebe haben gar nicht so viele Beschäftigte, wie sie gern entlassen würden, um noch mehr Gewinn zu machen.“

    Umgekehrt ist Fernsehbekanntheit alles andere als eine Gewähr für ein gutes Live-Programm. Das, mit dem Ex-Hannoveraner Oliver Kalkofe derzeit auf Tournee ist, wirkt müde zusammengeschustert. Im Capitol, einem Konzertort, der halbbestuhlt mit 1.300 Plätzen zunehmend auf Comedy à la Mario Barth oder Atze Schröder macht, präsentierte der frühere Frühstyxradio-ler Zusammenschnitte seiner „Mattscheiben“-Glanzstücke, zwei Geschichten vom rülpsenden und speienden Onkel Hotte im Feinripp-Hemd und dezent politisch angehauchte Stand-up-Plaudereien zur Befindlichkeit: „Deutschland hat seine Tage und ganz doll Kopfweh und kann deshalb die nächsten Jahre nicht an der Weltwirtschaft teilnehmen“ – und das war schon ein Spruch der besseren Sorte. Sein Frühstyxradio-Kollege Dietmar Wischmeyer hat sich dagegen derzeit aufs Lesen verlegt, doch wie er vor 1.200 Leuten im ausverkauften Theater am Aegi seine Grusel-Typenparade männlicher Urviecher zum Besten gab, hatte noch immer viel Klasse.

    Die Mischung zwischen Lesung und Comedy, wie er sie betreibt und ein Jochen Malmsheimer sie als Tresenleser zur Kunst erhob, gibt derzeit der auf kleineren Bühnen zu findenden Szene Aufschwung. Von Berlin schwappte die Lesebühnen-Mode nach Hannover und wird nun allmonatlich von einem siebenköpfigen Verbund zelebriert, zu dem auch Nico Walser und Wolfgang Grieger alias Fischbrötchen 1 Euro und der „Stehgreif-Entertainer“, wie er sich nennt, Thommi Baake gehören. Baake tritt in seinem hübsch-hässlichen roten Original-Kinovorhangs-Anzug auch gern mal bei der „Blub-Blub-Club“-Reihe auf, die Fischbrötchen 1 Euro seit einem guten halben Jahr allmonatlich mit langsam wachsendem Erfolg im Enercity-Expo-Café zelebrieren, wo lokale Größen und Nachwuchs eine Chance erhalten – Robert Wicke zum Beispiel, dessen Plauder-Jonglage schon ziemlich witzig gelingt. Da wächst doch einiges nach.

    Nach wie vor ein Riesenrenner ist Desimos Lindener-Spezial-Club, bei dem sich jeweils am letzten Montag eines Monats Hannover im Apollo Kino in eine Hochburg des Frohsinns und Humors verwandelt. Der Preis der Reihe, „Spezialist“, ging diesmal an Bodo Wartke aus Berlin, Knusper aus Gießen und Thomas Otto aus Steinhorst. Der Spezial-Club aber expandierte nach Braunschweig und auch hier meldete die Brunsviga bei der dritten Show ein komplett ausverkauftes Haus, jetzt geht’s allmonatlich weiter.

    Wegen des guten Erfolgs fortgeführt wird auch die Matthias-Brodowy-Reihe „Bed & Breakfast“ jeweils Samstagsabends und Sonntagsmorgens im Dinner Theatre der Landesbühne, bei der aus Hannover auch Stefanie Seeländer ihr neues Programm vorführte. Doch ob sie ihr Programm „Ganz schön ich“ tituliert oder „Einfach so. Oder auch anders“ – es geht stets um Lust und Plage des Diven-Daseins, für das man sich ganz schön abplacken muss. Gespickt ist das mit Chansons von Friedhelm Kändler bis Cora Frost, und vor allem bei letzteren wird’s ziemlich problematisch, weil man das Original im Ohr hat. Und Seeländer strahlt nach wie vor die Frivolität einer tugendhaften US-Highschool-Queen aus, ihre Erotik würde keinen Kindergeburtstag erschüttern. Da fehlen die Drastik, das Drama und auch das dezent Schmuddelige, ohne das eine Diva eben nicht vorstellbar ist. Also noch immer die beste Empfehlung für die prüde Vorstandssitzung oder Tagung.

    Ein in Hannover ansässiger Künstler beehrt seine Heimat nach langen Jahren erstmals wieder: Obwohl Valter Rado hier beim Kleinen Fest einst gute Erfolge im Duo „I pendolari d’elle essere“ mit „Tatum tatum crack!“ feierte, dauerte es Jahre, bis er sein allgemein gelobtes Programm „Running Orchestra“ nun auch in Hannover zeigte. Und er macht weiter mit Musik: Für Commedia dell’Aria arbeitet er mit Mezzosopranistin Genja Gerber zusammen und erzählt in einem Mix aus Slapstick, Belcanto, Pantomime, surrealistischen Bildern und kabarettistischen Erzählungen acht kurze, lustige, spritzige und poetische Geschichten: über das Drama eines Mauerblümchens, über einen Prinzen-TÜV und über die Befreiung der Liebe in einer Nutella-Selbsthilfegruppe. Premiere ist am 1. April – da sind wir doch alle sehr gespannt.                                                                                

    Redaktion: Evelyn Beyer

     

    Termine Niedersachsen:

    1. April   Wall Street Theatre mit „Best of“ im Theatersaal, Langenhagen

    1. April   Keulerei: „Varieté hoch zwei“, Brunsviga, Braunschweig

    19.–22. April Lars Reichow im Theater am Küchengarten, Hannover

    26 + 27. April Alfons „Die Rückkehr der Kampfgiraffen“ im Pavillon, Hannover

    3.–6. Mai  Hans Scheibner im Theater am Küchengarten, Hannover

    17.–20. Mai Christoph Sieber im Theater am Küchengarten, Hannover

    28. Juni bis 2. Juli Impro-Theater-Festival zur Fußball-WM (Theatersport-WM) im Pavillon, Hannover

    13.–30. Juli „Kleines Fest im Großen Garten“, schriftlicher Kartenverkauf (per Losentscheid, fast wie bei der WM) bis 13. April, Hannover

     

    2006-03-15 | Nr. 50 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer