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    France, terre d’acceuil


    Frankreichs Festivals sind die besten Gelegenheiten, Produktionen aus aller Welt zu sehen. Von Avignon bis Périgueux, von Paris bis Bayonne. Oder Aurillac. Das Festival d’Aurillac, das größte Straßentheaterfestival der Welt, feierte seinen zwanzigsten Geburtstag und lud aus Chile die Compania Gran Reynata ein, die „Roman Photo“, einen der Klassiker von Royal de Luxe spielt. Wohl das erste Mal, dass ein Outdoor-Stück von einer anderen Kompanie neu einstudiert wird. Leidenschaft und Action pur, und dazu die Aufregung des regelmäßig wiederkehrenden Kommandos: „Photo! Photo!“

    Frankreichs Tor zu Lateinamerika ist aber das Festival Les Translatines in Bayonne und Biarritz. Die Kompanie Théâtre des Chimères aus Biarritz organisiert dieses Festival seit fünfundzwanzig Jahren. Sie spielen Brechts Kaukasischen Kreidekreis, in baskischer Sprache! Eine Mischung aus baskischer und kaukasischer Folklore und Musik, serviert von einer explosiven Truppe. Brecht so neu zu entdecken (es gibt Untertitel), eröffnet völlig neue Perspektiven auf seine Parabel. Die Katalanen von Semola (www.semola.com) stehen dagegen vor dem Ende. Wenige Tage vor der geplanten Aufführung in Aurillac, Ende August, kam der Gründer und Regisseur der Truppe, Joan Grau, bei einem Motorradunfall ums Leben. Nach Bayonne kamen sie dann im Oktober mit ihrer neuen, letzten Produktion „Enlloc com a casa“, einem Stück über soziale Gewalt. Auf einer Baustelle spielen sie durch, was den zukünftigen Bewohnern, als Querschnitt der Gesellschaft, im Alltag widerfahren mag. Von Vergewaltigung bis Ausweisung. Aber es gibt auch Hochzeit und Adoption, Einsamkeit und (erotische) Träume. Ihr Bildertheater, in dem auch getanzte Soli Eingang finden, war schon immer sozial engagiert. Ein neues Stück wird es wohl kaum geben, aber die Truppe bleibt beisammen, tourt weiter, solange die Nachfrage nach „Enlloc com a casa“ anhält. Der Abschied von Grau fällt umso schwerer, als dieses letzte Stück eines der schönsten, visuell ausgewogensten der Truppe ist.

     

    Auch beim Festival d’Avignon kamen Latinos zum Zug. Die aber leben in Paris und sind Brasilianer. Dos à deux gewannen mit „Saudade – Terres d’eau“ den Preis des Publikums im Off. Ein Märchen, eine Sage, geschrieben und gespielt von Artur Ribeiro und André Curti, die für „Saudade“ die Japanerin Lakko Okino mit ins Boot holten, als junge Braut.

    In „Saudade“ arbeiten sie zum ersten Mal mit einem großen Bühnenbild, das wie ein orientalischer Traum anmutet. Waren sie in „Aux pieds de la lettre“ von Erfahrungen im psychiatrischen Milieu beeinflusst, lassen sie uns nun den Flüchtling, den Asylanten mit anderen Augen betrachten, die Gewalt des Kulturschocks mit dessen Gefühlen erleben. (www.dosadeux.com )

     

    Vor allem aber war der Kulturaustausch im Avignon Off von Asien gekennzeichnet. Das Shang Orientheatre betreibt eine Schauspielschule in einem Dorf in Taiwan, wo dessen Gründerin Sun Li-Tsuei, die aus Kontinentalchina stammt, die chinesische Kultur des Tsun Tao unterrichtet. Ihr aktuelles Stück ist die zweite Fassung von „Shan Hai Jing, the Odyssey of a Shaman“. Es ist die Reise eines Shamanen nach dessen Tod, in einer Welt voller Geister und Symbole, deren ursprüngliche Bedeutung uns nicht unbedingt zugänglich ist, die aber, von zwei Musikern begleitet, unwiderstehliche Magie ausstrahlt. Für 2006 plant diese außergewöhnliche Künstlerin eine Tournee in England. (www.shangorientheatre/at/gmail.com)

     

    Aus Seoul kam die erfolgreichste Körpertheaterkompanie des Landes, Cho-In, mit einem Stück, das von Gorki, Zola oder Dickens inspiriert sein könnte. „The Train“, ein simpler Titel für die komplex gespielte Geschichte zweier ausgebeuteter und misshandelter Bettlerkinder, die auf einem Bahnhof alternde Magier treffen und zusammen mit diesen ihre mafiösen Peiniger besiegen. Hintergrund ist die koreanische Geschichte mit ihren Kriegen und der Armut, die sie verursacht haben. Die bettelnden Kinder könnten aber auch in jeder europäischen oder südamerikanischen Metropole ein zu Hause suchen.

     

    Korea, China und Japan vermischen sich in der Compagnie Boom. Das ist wohl nur außerhalb Asiens möglich, hier in Paris. Sie spielten denn auch im Off von Avignon ein europäisches Thema, nämlich „Orpheus“, und erreichten über den asiatischen Umweg etwas unerhört Seltenes, nämlich der Pantomime aus der Schule von Marcel Marceau ein modernes Gesicht zu geben. Ihre Einflüsse reichen von Marceau zu Decroux und der Taiwan-Oper. Hier verwirklicht sich, was wir immer, und häufig zu Unrecht, mit Asien assoziieren: Harmonie. (www.boommime.com)

     

    Redaktion: Thomas Hahn

    2005-12-15 | Nr. 49 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn