Gut, dass die Saison mal wieder früh begann! In Spanien zum Beispiel, wo das noch junge, aber sehr beeindruckende Festival Castilla y Leon auch ein Paar spektakuläre Aufführungen auf und über der historischen Plaza Mayor erlaubt. „Carillon 3.0“, die neue Produktion der italienischen Kompanie Kitonb, glänzt mit einem Turm aus gespannten Seilen, in dem die Tänzer akrobatische und sehr ästhetische Kletterpartien vollführen. Auch die kosmische Schwebepartie am Kranhaken ist ansprechend, allein das getanzte Vorspiel am Boden wirkt naiv. Insgesamt aber ist es eine beeindruckende Aufführung. Auch das Festival sollte man im Auge behalten. Der künstlerische Leiter Guy Martini, ein nach Spanien emigrierter Franzose, gestaltet das noch junge Festival de las artes (so schlicht ist sein zweiter Name) einfach brilliant und ist offen für alles Neue (www.festivalcyl.com; www.kitonb.com).
Weiter zum Festival Furies in Chalons en Champagne, wo zwei Tanzkompanien die Straßen und Trottoirs unsicher machten, angefangen bei der jungen Truppe Jeanne Simone. Die wursteln mitten im Vormittagsverkehr mit ganz absurden tänzerischen und musikalischen Aktionen, man wähnt sich in die 1970er zurückversetzt. Der normale Einkaufspassant reagiert aber immer noch oft unwirsch auf die wandelnden, rennenden, meditierenden und musizierenden Verkehrshindernisse, sodass man am Ende vom Sinn der Aktion überzeugt ist. Und reichlich Spaß mit allerlei Unvorhersehbarem hat man auch noch. Der Höhepunkt auf Furies war die Begegnung mit einem Truppentransporter der Armee! Die braven Soldaten verteidigten ihr Gefährt so leidenschaftlich gegen den Ansturm der Clowns, dass man schon Festnahmen fürchtete. Es ging aber gut, and zum Schluss lachten alle (www.lagrossentreprise.fr/images_gross_ent/jeanne-simone.html).
Furies lud auch Artonik mit ihrer neuen Produktion „12’ chrono“ ein, die auf einer Caféterrasse spielt. Das ist kurz, aber intensiv, eigentlich eine banale Straßenszene, maritim in Blau und Weiß gehalten. Aber sie entwickelt sich sehr stürmisch und tänzerisch zwischen den Damen im Café, dem Kellner und dem Matrosen. Das Spiel der Verführung ist hier noch richtig feurig, mit viel Humor gepfeffert. Endlich wieder ein Superstück von Artonik. In der Kürze liegt eben doch die Würze (www.lafriche.org/artonik)!
Das völlige Delirium bereitet Serge Noyelle mit seiner Truppe vor. „Les Nonos sont dans la rue“ heißt das Warten auf eine Revue, die bald beginnen soll. Und während wir nun warten, sehen wir die schrillsten Figuren und Kostüme, eine Fanfare, einen Mord, erotisches Kabarett und ein Feuerwerk zum Schreien komischer Peinlichkeiten. Der Kerl und seine Truppe sind zu allem fähig, eine Ansammlung schriller Charaktere, die mit ihrem „Cabaret NoNo“ für Furore sorgen.
Ebenso schrille, und doch von ganz großem Können zeugende Satire bieten La Guardia Flamenca. Die feurigen Damen stammen zwar aus Belgien, aber unter ihren roten Rüschen verbergen sie viel sevillanisches Temperament. „Anda la Banda“ bringt Flamenco auf die Straße und überspitzt die Klischees des Genres geschickt. Sie kreuzen Flamenco durchaus mit einer Prise Moulin Rouge, sodass hier ein ganz neuer Blick auf die Tradition entsteht, in Tanz, Gesang und Musik. Auf dem Festival VivaCité in Sotteville lès Rouen waren ihre Kleider eine Art roter Faden zu Sol Pico aus Barcelona, Stammgast bei VivaCité. Wie gut, dass es Festivals gibt, die Sol Pico dauerhaft unterstützen. „Sirena a la plancha“, ihre Produktion 2008, ist mal wieder ein exzentrisches Großspektakel mit Livemusik. Eine acht Meter lange Nixe hilft der Menschheit, dargestellt von Tänzern, sich vor einem Riesen (der erinnert uns doch stark an Royal de Luxe) in Sicherheit zu bringen. Das zieht sich hie und da in die Länge, ist choreografisch manchmal hausbacken, brennt aber eine Reihe kraftvoller Bilder in die Netzhaut (www.laguardiaflamenca.be; www.solpico.com).
Den Abschluss von VivaCité bildete „La Grande parade“, eine Art best of der Compagnie Off. Doch das Ganze ist halt nicht immer so gut wie die Summe seiner Teile. Es fehlte an Dynamik zwischen den Auftritten der Kleopatra auf ihrem Elefanten, den Kanonieren, den Grooms, den Musikern, dem Raubtierkäfig und all den anderen Attraktionen. Aber aus dieser großen Parade kann durchaus noch Großes werden, die Profis der Truppe werden dem Motor das Stottern schon austreiben (www.compagnieoff.org).
Manchmal ist ein kleines Tanzsolo einfach attraktiver. Besonders, wenn es von bezaubernden, ausdrucksstarken Choreografinnen gestaltet und interpretiert wird. Einst auf Mimos in Périgueux entdeckt, war Sara Martinet in diesem Jahr in Sotteville zu Gast. Und zwar in einer Badewanne. „Le Bain“ heißt ihr Stück denn auch. Unglaublich elegant und geschmeidig verschwindet sie kopfüber in der Wanne, spielt mit dem Wiederauftauchen in Teilen ihres Körpers und entwickelt wunderbare Poesie, Sinnlichkeit und innere Träume, die sie uns zu vermitteln versteht, begleitet von den live gespielten, musikalisch-elektronischen Exprimenten von Jean-Philippe Garde. So gewann sie den Preis des Festivals von Ramonville bei Toulouse (http://saramartinet.free.fr).
Und Mimos lieferte auch in diesem Jahr seine Entdeckung: Die Koreanerin Sun-A Lee gewann so manchen Wettbewerb in Japan und Europa in der Kategorie „Tanzsolo“. Mit einer sehr persönlichen Körpersprache, die ins kleinste Detail geht, begeistert sie auf der Bühne. Und plötzlich zeigte sich, dass ihre filigrane Arbeit der Hände, Finger und Zehen auch im Freien Wunder bewirkt, und zwar, wenn sie mit Gemäuern und deren Atmosphäre in Dialog tritt und ihre sehr persönliche, charakteristische Technik direkt den Gegebenheiten anpasst. Da ist sie so schwebend, voller Licht und Natürlichkeit, dass die historischen Mauern selbst zu schwingen scheinen. In „Space of Memory“ jagt sie verlorenen Erinnerungen hinterher, die so schwer zu greifen sind wie sie selbst und alles, was sich in alten Mauern zugetragen und verflüchtigt hat. Das Publikum staunte darüber, wie selten sie sich frontal zeigt und ihm meistens den Rücken zudreht. Lee lässt eben den Körper sprechen. Ihre äußerst geschmeidigen, feinen Gliedmaßen schwingen, bis sie zu fliegen scheinen. So tritt sie mit den Bauwerken in einen beinahe spirituellen Dialog, der von Toulouse bis Spanien bereits reges Interesse auslöste (lee.suna@yahoo.co.kr).
Aber auch Mimos hatte seine große Parade, die halbwegs überzeugte. Mit „Etre ou ne pas être“ gelang es der Kompanie Karnavires, in den Straßen von Périgueux mit viel Feuerzauber und Fröhlichkeit eine Ahnung der Ekstase entstehen zu lassen, die sich früher auf Prozessionen abgespielt haben mag. Geschickt war es, den karnevalistisch-skurrilen, expressionistischen Zug auf die Kathedrale der Stadt zurollen zu lassen. So wurde es richtig aufregend und kribbelnd. Die Stationen, auf denen die Truppe Theater darbot, fielen allerdings hauptsächlich dadurch auf, dass kaum ein Zehntel der dreitausend Zuschauer davon etwas sehen konnte. Schade, denn die Akteure, die oft den direkten Dialog mit dem Publikum suchen, lassen als unberechenbare Clowns bzw. angeheiterte Pierrots ein Stück modernes Mittelalter aufleben (www.karnavires.org).
Zu Frankreichs Hochkultur der Pyrotechnik gehört die Truppe von La Salamandre, die auf Mimos mit „Rêve“ verblüffte. Positiv mit ihrer innigen, zärtlichen Beziehung zum Element, das sie behandeln wie ein Gärtner seine Blumen. Tanz und Jonglage mit dem Feuer sind so überraschend und spektakulär wie intim. Konzeptuelle Zweifel lösen sie aus mit dem Streifzug durch die Weltmusik von karibischen Sklavenritualen über Afrika und Indien bis hin zu gregorianischen Gesängen und Free Jazz. Sie wollen einfach die Kraft des Rituals wieder aufflackern lassen, und das gelingt ihnen letztendlich. Die Tänzerinnen in Weiß sind voller Grazie. Das Feuer ersetzt hier das Trapez. „Rêve“ – tatsächlich wie ein Traum, dank der Magie des Feuers, dem sich alles andere unterordnet (www.la-salamandre.com).
Redaktion: Thomas Hahn
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