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    Träumen oder Wachen?

    Bemerkungen zum neuen Stuttgarter Friedrichsbau-Programm „Sonambul“

    Mit Varietéprogramm-Titeln ist das so eine Sache: Sie müssen einerseits zur Vielfalt des Gebotenen passen, andererseits geben sie aber doch eine gewisse Richtung vor und wecken Erwartungen. So gesehen führt „Sonambul“ (so nennt sich die erste Friedrichsbau-Produktion in diesem Jahr) in die Irre, ja sogar zu zwiespältigen Gefühlen. Wie Traumbilder sollen die artistischen Darbietungen laut Pressetext ineinander fließen. Vor allem das Lichtdesign (Torsten Schulz und Arnd Frank, wie immer und wie auch das diesmal vor allem im ersten Programmteil unterbeschäftigte Friedrichsbau-Orchester unter Rainer Kunert zuverlässig den Abend begleitend) gibt sich große Mühle, dem Programmtitel gerecht zu werden und taucht die Nummern, bei denen das möglich ist, in somnambules Licht. Aber die Mentalmagie von Olaf Kohrs und Vivian Sommer, die als Conférenciers den roten Faden durch das Nummernprogramm legen, spricht vornehmlich den Intellekt an und provoziert ständig die Frage: Wie machen die das bloß? Das macht wach und aktiviert die Aufmerksamkeit, was mindestens genauso viel Vergnügen macht wie das Träumen. Die älteren Zuschauer erinnern sich vielleicht noch an das in den 60er-Jahren häufiger gespielte Boulevardtheaterstück „Die großen Sebastians“, in dem die Frage nach dem „wie“ zum Teil beantwortet wurde, was übrigens keineswegs die Bewunderung für die damals ausführenden Schauspieler schmälerte. Ganz im Gegenteil!

    Es ist also nicht schlecht, was Olaf Kohrs und Vivian Sommer bieten, aber es provoziert keine traumwandlerischen oder ganz mondsüchtigen Gefühle. An Hypnose oder Suggestion denkt wohl auch niemand. Jan Becker, der im vergangenen Herbst in „ZauberZauber“ und mit seinem Soloprogramm im Friedrichsbau zu sehen war, hätte da besser gepasst! Die kurzen, skurrilen Bilder, die Vivian Sommer jeweils als Übergang zur nächsten Nummer sprachlich beschwört, leisten das auch nicht mehr, zumal sie von ihrem Partner Olaf Kohrs ja immer mit „das stimmt doch gar nicht“ unterbrochen und von der Bühne komplimentiert wird. Aber nichtsdestotrotz: Die Vielseitigkeit des Magier-Duos ist bewundernswert. Die beiden blicken ja nicht nur scheinbar in die Gehirne der Zuschauer, indem sie Geldschein- oder Kreditkartennummern „telepathisch“ übertragen! Vivian nennt oder beschreibt auch blind die ihrem Partner Olaf von den Zuschauern gezeigten Gegenstände. Olaf ist neben einigen anderen Tricks Meister der magischen Sechzehnfeld-Quadrate mit zweistelligen Quersummen, und zwar nicht nur in Zeile und Spalte, sondern auch in den Diagonalen und allen Teilquadraten. Der „Fehler“, sofern man die Abwesenheit einer stimmigen Programmidee überhaupt so nennen möchte, ist wohl schon beim Casting entstanden. Lassen wir uns also auf das Wechselbad der Gefühle ein und freuen uns an den Einzelnummern, die, wie in Stuttgart selbstverständlich, wiederum vom Feinsten sind.

    Zum ersten Mal im Friedrichsbau ist der russische Tempo-Jongleur Semen Krachinov, der mit viel jugendlichem Charme bis zu sieben Bälle und Keulen trotz geringer Bühnenhöhe gleichzeitig unter Kontrolle hat. Sein Spezialtrick ist das Ballauffangen mit einem kleinen Beutel, der an einer drei Meter hohen, auf der Stirn balancierten Stange befestigt ist. Dazu muss sich der Künstler in den Zuschauerraum begeben, denn die Bühne ist hierfür zu niedrig. Fabrizio Giannini und Armando Rabanera aus Spanien kommen dagegen ohne Spezialtrick aus. Sie zeigen als Cirque Vague Kaskaden, Salti und Flickflacks. Andréane Leclerc aus Kanada hat ihre Kontorsionskunst am National Circus of Montreal gelernt. Und Ziska Riva aus der Schweiz, die mit ihrem Tanz auf dem Drahtseil dem Programmtitel „Sonambul“ am nächsten kommt, rehabilitiert ein Genre, das von so manchem Kleinstcircus missbraucht wird, wenn man dort den oft etwas pummeligen Nachwuchs mehr oder weniger griesgrämig über den „Silberdraht“ stapfen lässt. Ziska Riva hingegen zeigt wirklichen Tanz, zum Teil auch auf der Spitze! Norbert Ferré aus Frankreich, wie alle zuvor Genannten ebenfalls zum ersten Mal im Friedrichsbau, gelernter Psychologe, aber tätig als Comedy-Zauberer und Pantomime bzw. Imitator, könnte für den Versuch stehen, aus der eingangs geschilderten Zwiespältigkeit der Gefühle eine eigene Programmidee zu machen. Denn seine beiden Auftritte bestehen aus zwei etwa gleich langen Anteilen Comedy und Manipulation, die nur lose aufeinander folgen, ohne dass ein innerer Zusammenhang oder dramaturgischer Aufbau erkennbar wäre. Allerdings ist er ein vortrefflicher Manipulator (Bälle und Spielkarten), und auch seine Pantomimen machen Spaß.

    Stammbesucher des Friedrichsbaus freuen sich immer sehr, wenn einige Nummern wieder engagiert werden, kann man doch oft eine künstlerische Weiterentwicklung erkennen. Erst im Sommer 2006 war Vertikalseilartistin Marie Bitaroczky mit dem Absolventenprogramm der Staatlichen Artistenschule Berlin (die übrigens auch von Ziska Riva absolviert wurde) in Stuttgart. Sie kombiniert Vertikal- und Schwungseil und zeigt eine harmonische, wunderbar leichte Gesamtleistung aus einem Guss, in die auch Abfaller nahtlos integriert sind. Deshalb denke ich, dass der in meiner Vorstellung etwas holprigere Übergang vom Vertikal- zum Schwungseil normalerweise eleganter gelingt und kein Beitrag zur mutmaßlich nicht beabsichtigten Programmidee „Zwiespältigkeit“ war. Jedenfalls kann sich Marie Bitaroczky schon jetzt mühelos neben einer so spektakulären, kraftvollen und dennoch tänzerisch gebliebenen Partnerakrobatik am Trapez behaupten, wie sie von den ebenfalls erneut engagierten Sorellas als Programmhöhepunkt und Schlussnummer zugleich zelebriert wird. Übrigens haben auch Christophe Gobet aus der Schweiz und Rodrique Funke aus Berlin, die seit 2000 als Sorellas zusammenarbeiten, die Staatliche Artistenschule Berlin absolviert. Mindestens zur Hälfte ist also „Sonambul“ eine Hommage an diese Institution.

    Auch das Backnanger TraumZeit-Theater, das für den März sein viertes Geburtstagsvarieté ankündigt, pflegt die Mischung von Wieder-Engagements und neuen Überraschungen. Neben den Erstengagements Duo Supanova (Trapez), Christoph Rummel (Jonglage) und Nina & Nina (Hand in Hand) darf sich das Backnanger Publikum auf ein Wiedersehen mit Massimiliano Sblattero (Drahtseil) und Lorenzo Torres (Papierreißer) freuen. Hausherr Michael Holderried alias Michael van Reed (Illusion) vereinigt gleich beide Elemente in seiner Person. Das Wiedersehen mit dem Zauberkünstler ist gekoppelt an sein Debüt als Conférencier im eigenen Haus. Davon beim nächsten Mal mehr.

    Im April und Mai kommen dann lauter Holländer: Dick de Witte (musikalischer Entertainer), Tel Smit, The Great Hansini, Yvonne und die schon im Metier der Conférence in Backnang bewährte Sylvia Schuyer zaubern und entertainern sich durch „Hoppla, die Holländer kommen“.

    Redaktion: Manfred Hilsenbeck

     

    2007-03-15 | Nr. 54 | Weitere Artikel von: Manfred Hilsenbeck