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  • Szenen Regionen :: Frankreich

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    Mimos ’99 : Wenn der Körper mit der Wahrheit…

    In der Wahrheit des Körpers reflektiert sich die Wahrheit der Anderen. Der nackte Körper des Anderen zeigt mir meine (soziale) Wahrheit auf. Und genau das erwarten wir vom Theater, sagt Denise Boulanger vom Théâtre Omnibus aus Montreal : daß der Künstler unsere eigenen Erfahrungen widerspiegelt und uns mit ihnen konfrontiert.

    Da wurde auf einem der zahllosen Sommerfestivals ein Akteur der Compagnie L’Arbre à Nomades von der Polizei eingesackt, weil es die Regie so fügt daß er zu Beginn der Aufführung « U.P.H. » (siehe Trottoir Nr 24, S. 42) nackt dasteht. Woraufhin die Compagnie in der Stadt wo sie danach auftreten sollte gar nicht erst antreten durfte. « Verletzung des Schamgefühls » heißt das in Frankreich. Da schämt sich ein Land für seine Polizei. Und wer wird hier verletzt wenn nicht die Kunst.

     

    Skistolperer und Sittenwächter

    Umso mehr muß man sein Haupt entblößen vor der Courage von Peter Bu, sein Mimos/Festival international du mime actuel in diesem Jahr unter das Motto « Die Wahrheit der Körper » zu stellen und gleich mehrere Aufführungen in nackter Haut zu buchen. Und prompt gab es Ärger im schmucken Périgueux das ja so viel Wert legt auf das zur Schau tragen seiner kunstvoll restaurierten Renaissance-Fassaden. Was steckt dahinter ? Persönlich war es dem Bürgermeister wohl egal, doch fühlte er sich unter Druck gesetzt, ein Machtwort zu sprechen gegen den Verfall der Sitten. Eine Klage war anhängig von Seiten islamischer Ladenbesitzer, denn deren Söhne waren mitten am Tag in der Stadt nackten Männern begegnet. Daß diese Eindringlinge immerhin Skier trugen unter der schneeweißen Haut ihrer Füße, konnte niemanden besänftigen.

    Die Skiläufer kamen vom Bile Divadlo (Weißes Theater) aus dem tschechischen Kolin. Ihre rustikalen Skibretter halten sie im Stil der dreißiger Jahre. Natürlich ist das absurdes Theater, sowohl die Aufführung selbst als der Aufstand den sie verursacht. Schon beim Avignon-Festival war den wandelnden Karikaturen nach einer Aufführung vor dem Papstpalast von der Polizei bedeutet worden daß eine Wiederholung ihres Acts nicht ohne Folgen bleiben würde. Kein Wunder daß die Herren im August immer noch nicht gebräunt waren. Dabei ist ihre Aufführung vor weißem Tuch, feierlich begleitet von einem weiblichen Streichquartett – in schwarzer Abendgarderobe – schon weniger absurd als ein Kurzauftritt in der Mittagssonne. Gleichwohl ist es köstlich anzuschauen wie die tschechischen Skistolperer mit alltäglichen Gemeinheiten, patetischer Huldigung an die Natur, corps de ballet und Hundertmetersprint in Stock und Ski sich nicht nur der Wahrheit des Körpers nähern sondern vor allem den Fragen an das Zusammenleben im Dschungel der Gesellschaft. Das erfrischende am Bile Divadlo ist daß sie Amateurschauspieler sind die sich amüsieren ohne sich philosophisch aufzutakeln. Im zivilen Leben sind sie unter anderem Chirurg oder Röntgenarzt und als solche mit des Körpers Wahrheit bestens bekannt. Die radikalste Performance auf Mimos ’99 kam aus Österreich. Und auch hier ergaben sich zahlreiche Mißverständnisse. Sabina Holzer und Cornelia Zell zeigen in « Bodies unfold » eine Realität der Sinnlichkeit, bereit, alle Schmerzen von Menstruation bis Entbindung zu akzeptieren. Sie schaffen darin gar eine Huldigung an Fruchtbarkeit und Fortpflanzung des Menschlichen, und doch geht es um Kommunion und nicht darum, den Zuschauer zu schockieren. Dazu wiederum Denise Boulanger : « Von Beginn an war ich fasziniert davon, wie hier Kunst ensteht im kleinsten Detail. » Das ist kein Happening, sondern eine Performance in der aus elementarsten Körperfunktionen Bilder von innerster Schönheit entstehen. In vino veritas ? In Muttermilch, in Blut, in Schweiß. Und dann entsteht in diesen  Körpern der Wahrheit, die auf das Trugbild der Werbung scheißen, eine Art kosmischer Harmonie, die sich aus ganz archaischen Mythen nährt in welchen Frauen die Welt erschufen.

     

    Polaroid und Selbstbildnis

    Den Preis der Kritik gewann La Ribot. Die Madrilenin tritt nicht nur nackt auf sondern spielt mit der Nacktheit und dem Interesse der Zuschauer an derselben. Ihr surrealistischer Übervater ist Marcel Duchamp. « Mas distinguidas » ist ihr zweiter Wurf kurzer Stücke, die nie länger als fünf Minuten dauern. Hundert « distinguidas » sollen es einmal werden, aber es braucht halt Sponsoren die jeweils « Eigentümer » eines Stückes werden. Und wenn nun La Ribot mit nacktem Körper, ein Schild « zu verkaufen » vor der Brust tragend als Tänzerin vor das Publikum tritt dann steht sie dort nicht als sexuell ausgebeutete Ballerina sondern als Sinnbild einer abstrakten Prostitution in welcher sich der Künstler dem Kapital unterwirft. Und läßt sich dennoch von einem Klappstuhl zerquetschen und im Koitus niedermachen. Symbolisch. Wenn sie tanzt, schreibt sie die Linien ihrer Bewegungen mit einem Stift auf den Körper als wolle sie ihn brandmarken. Ihr bildlichster Act ist die Fotostory in der sie die drei erogensten Stellen mit einer Polaroid fotografiert, die Fotos über ihre Original-Körperteile klebt und sich vor dem Publikum aufbaut während die Fotos sich langsam enwickeln. Die Tänzerin La Ribot ist dabei, ein internationaler Star des surrealistischen Performance-Acts zu werden.

    Das war’s nun aber auch in Sachen Nacktheit. Wollte man Mimos bloßstellen, so könnte man von den völlig substanzlosen, dilettantischen Kinderspiel- und Cowboyfantasien zweier weiblicher Clowns aus England und Australien berichten. Australischer Humor scheint sich im Kleiderschrank abzuspielen. Die Compagnie Dust wird nicht viel Staub aufwirbeln, da hatte manch junger Butoh- oder Pantomimenlehrling im Off mehr zu bieten.

     

    Zurück zur Performance, und zwar outdoor. Carole Fontaineau integriert ihren Körper als lebenden Bestandteil in szenisch-plastische Gesamtkunstwerke aus Metall und anderen Recycling-Stoffen, Klang, Form und Farbe. In « La vierge noire » (Die schwarze Jungfrau) untersucht sie den Abdruck des Körpers in den Zeitläuften, spielt mit Knochen im Sand, merkwürdig schwarz von Kopf bis Fuß in einem rot-metallenen Plisseekleid. Ein verstörtes, verbranntes Kind einer uns fernen Galaxie gleich nebenan. Fontaineau nennt ihre Werke « räumliche Inszenierung von Gefühlseindrücken. » Deren Ausstrahlung wird höchst intensiv, wenn der Ort an dem sie Auftritt gut gewählt ist. Dann macht sie Leben als Zustand greifbar, ist gleichzeitig der erste Mensch und der letzte. Erde, Luft, Feuer scheint sie von innen her zu kennen, wird von ihnen durchdrungen wie ein Butoh-Tänzer.

     

    Fallschirm und Flugmobil

    Der Traum vom Fliegen erschien den Mimos-Besuchern gleich zweimal. Zuerst auf holländisch mit einer Kompanie  die sinnigerweise Theater Terra heißt. Auf einem transparenten Boden, über den Köpfen der Zuschauer, simulieren die Akteure einen Fallschirmsprung quer durch die Etappen eines Männerlebens und versuchen, die Blickwinkel neu zu polen. Beinahe gruppendynamisch angetörnt liegen die maximal 50 Zuschauer am Boden, den Blick gen Himmel, und genießen den Aha-Effekt. Horizontal, vertikal, zirkulär werden Akteure und Perspektiven am Himmel durcheinandergewirbelt. Oder fast. Denn ein wenig mehr Gas könnten sie noch geben beim Theater Terra.

    Eine andere Art von Flugfantasie bieten Theatre du Vertige als « Les Bouffons volants ». Zwei bourgeoise Gentlemen die nicht fliegen, sondern landen, von einem Planeten kommend auf dem Stummfilm und Jules Verne noch topaktuell sind. Als Fantomas mit Zylinder rollen sie in ihrem nostalgischen Flugmobil durch die Straßen und suchen den Dialog mit irdischen Hausbewohnern. Überwanden sie die Schwerkraft dank ihres pedalgetriebenen « Retromobils » oder dank ihrer riesigen Fledermausschwingen ?

    Je kürzer, desto feiner waren die Auftritte auf Mimos ’99, bis hin zu den 13 Minutendramen der Ribot. Das Loblied auf die Kürze gilt auch für den Programmteil Mime corporel in dem Decroux-Schülerin Denise Boulanger aus Montreal im Duo mit Francine Alepin in « Das Grab der Schwester »einen zartfühligen Dialog zwischen Leben und Tod zeichnet. Die Gestik des Mime corporel ist so tiefgehend daß keine Nuance der Emotionen verborgen bleibt, trotz der schlichten grauen Kleider die flämischen Renaissance-Gemälden entlehnt sind.

     

    Ausziehen !

    Auf Mimos trifft man auch den italienischen Schauspieler und Regisseur Marco di Stefano, der in den Monte Sibilline in dem Städtchen Amandola ein Kleinkunst- und Theaterfestival kreiert hat. Dort spielt die Bevölkerung bei der Kreation eines Theaterstückes aktiv die Hauptrolle. Commumnity Play heißt die Methode. Manch Einem riecht schon das nach Revolution. Und nun wurde in Amandola eine rechtsextreme Partei ins Rathaus gewählt, da sie Straßenbau versprach. Und kassierte gleich nach der Wahl den Schlüssel zum Festivalbüro ein. Aus war’s mit Community Play. Jetzt kommt Hochglanztheater. Di Stefano versucht nun, ohne das Geld der Stadt durchzuhalten. Dabei hatte er niemanden nackt auf Bühne oder Straße spielen lassen. Man könnte meinen, Theater kämpfe hier und da schon wieder um das nackte Leben. Wenn das so weitergeht, brauchen wir bald wieder das Happening. Zieht euch aus und stürmt die Rathäuser !

     

    Redaktion: Thomas Hahn

     

    1999-12-15 | Nr. 25 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn