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  • Themen-Fokus :: Musik

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    Weltenbummler und Wortakrobaten

    – und Klassik geht auch ganz anders

    Dass Musik keine Grenzen kennt, gilt als Binsenweisheit. Dennoch sind aber die Musiker immer wieder auch Grenzgänger, unterwegs auf der Suche nach Neuem und immer bestrebt, das neu Entdeckte zum Klingen zu bringen und für Hörer und Zuschauer verfügbar zu machen. Bei all dem, was als Song oder Lied gehört wird, bilden Noten und Worte eine unauflösliche Einheit. Ein Großmeister der Beherrschung von Text und Melodie ist Konstantin Wecker. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, auch die Texte einmal losgelöst von den Noten zu betrachten. Denn:

    Seine Texte, so Wecker, haben ihn drei Jahre nach der „Vaterland-Tour“ wieder „gekriegt“.

    Mit der neuen CD Am Flussufer im Gepäck ist er in diesem Jahr wieder auf Tournee. Er, der brillante Musiker, Lyriker und Komponist, schlägt dabei die leiseren Töne an. In allen subtilen Facetten thematisiert Wecker scharfzüngig Kinder- und Erwachsenenwelt, Authentizität, Identität und schlitzohrige Verweigerung. Bei allem ist er sich und seinem Engagement treu geblieben.

    Titel wie „Flaschenpost“, „Statistisch erwiesen“ oder „Vom Sinn“ versprühen den weckerschen Geist. Und die Musiker seiner Band sind allererste Sahne. Jo Barnikel (Keyboard), Hakim Ludin (Percussion) und Norbert Nagel (Saxofon, Klarinette, Flöte) spüren diesem Geist nach und verbreiten damit Begeisterung im Publikum. Wecker ist ein Bühnenmensch, auch bei dieser Tour, allzeit präsent und unverwechselbar. Selbst die CD wird dem hohen interpretatorischen Anspruch des Künstlers gerecht. Erstmalig wurde sie im Studio live eingespielt. Noch besser ist natürlich, das Konzert direkt mitzuerleben. Das sollte man sich einfach nicht entgehen lassen.

    Sehr empfehlenswert ist das Programm der lebenden Legende Ingo Insterburg.

    Ingo Insterburg ist Ingo Insterburg. Daran ändert auch sein Alter nichts. „Ach nun bin ich 70“ heißt sein aktuelles Programm. Da, wo er auftritt, hängen ihm die Zuhörer an den Lippen, lassen sich mitreißen, wenn er mit seiner unabänderlich markanten Stimme die Bühne in ein verworrenes Chaos von Worten, Instrumenten und Utensilien verwandelt. Der 70-Jährige ist umtriebig, präsentiert alte und vor allem neue Lieder, bietet sie dar in selbst genähter Samthose und 6-schwänziger Frackjacke, als Ein-Mann-Gruppe, die sich zum Glück nicht auflösen kann. Eingefleischte Insterburg-und-Co-Fans kennen die fantastischen Wortspiele, den Wortmüll, die ironische Sprachakrobatik dieses Menschen, der fernab von Comedy und gekünstelter Unterhaltung die wesentlichen Merkmale des Entertainments beherrscht wie kaum ein anderer: die angenehme, humorvolle Nonsens-Geschwätzigkeit und die Beherrschung von 21 Instrumenten. Die hat er zum großen Teil selbst gebaut. Das hat er einfach drauf. Und – pädagogisch sinnvoll – geht Insterburg schrittweise vor, „damit sich das Gehirn nicht verschluckt“. Als Vegetarier liegen ihm vegetarische Gedichte: „ Geht einst die ganze Menschheit ein, dann hab’n die Vegetarier Schwein“ resümiert er sinnverloren. Auf seiner chinesischen Wimmergeige lässt er Mozarts kleine Nachtmusik erklingen und erzählt mit einer Bierflasche, auf der er mit Hilfe eines Metallrohrs Melodien erzeugt, die Geschichte von den Mistkäfern in der Jauche. Das alles reizt zum Lachen, stärkt die Lachmuskeln des Auditoriums immens. Kollege Beethoven hat für ihn die Schicksalssinfonie geschrieben, die er mit Geige und eigenhändig erfundenem Schlagzeug zum Besten gibt.

    Insterburg erzählt von frommen Lügen, philosophiert über Spucke und spielt bei „When the Saints“ die Gitarre mit dem Fuß, wobei er die rechte Hand frei hat für Trompete oder Percussion-Instrumente. Zudem trägt er als Anhänger des real-romantischen Fantastizismus Raucher- und Trinkerlyrik vor und erweist sich als brillanter Gitarrist im Kontiki-Rumba. Und natürlich darf auch „Ich liebte ein Mädchen“ nicht fehlen. Mehr geht nicht. Dieser Mann ist grandios – ist eben Ingo Insterburg.

    Manfred Leuchter ist ein Weltenbummler in Sachen Musik – und gilt als der Shootingstar der Jazz-Szene. Seine Reisen inspirieren ihn. Seine Impressionen setzt er in Noten um und spielt sie wie kaum ein anderer auf dem Akkordeon. Und bringt sie mit seiner Band auf die Bühne.

    Leuchter ist ganz nah dran an dem, was die jeweilige Mentalität des Landes oder Kontinents ausmacht, etwa die des Orients. Über stampfenden Rhythmen zelebrieren seine Finger auf chromatischen und Basstasten einen Freudentanz der Virtuosität. In die Klänge weben sich Saxofon- und Trompetensoli und verbreiten ein Höchstmaß an zeitweise kaum auszuhaltender Spannung. Das Werk klingt wie es heißt: „arabesque“. Dem stellt Leuchter eine Ode an seine Wahlheimat Marrakesch gegenüber. Ruhig meditiert er die Vertrautheit und Verträumtheit dieses Ortes, der jederzeit von einem Sandsturm heimgesucht werden kann – der dann musikalisch auch losbricht. Reisestationen voller Lebensfreude und Impulsivität lassen Leuchter und Band ihre Zuhörer einfach miterleben. In „Jakko“ als tansanischer Adaptation brilliert der Trompeter Christoph Titz. „Sparito“ entwickelt sich zu einem sanften italienischen Liebeslied, in dem traumhaft schöne Melancholie verbreitet wird. Mit voller Bandpower simuliert das Quintett die Erlebnisfahrt mit dem Orientexpress. Selbst in Interpretationen von Titeln der Fab Four zeigt sich die Kreativität des Ausnahme-Akkordeonisten Manfred Leuchter. Spielerisch und mit musikalischer Ironie dialogisiert er „And I love her“ mit seinem Saxofonisten Heribert Leuchter, um gleich darauf seinem Gembri-spielenden Gitarristen Antoine Pütz und dem Schlagzeuger Steffen Tormählen zur Hymne an die schöne Frau („Dar Marjana“) zu folgen.

    Mit dem Leuchter-Quintett begegnet den Zuhörern sensationelle und atemberaubende Musik, die scheinbar schwerelos die komplette Bandbreite des Jazz einbezieht.

    Wenn es darum geht, neue Formen der Begegnung mit Klassik zu finden, hat die Koblenzer Kulturfabrik KUFA mit der neuen Veranstaltungsreihe „Klassik in Jeans mit Bier“ Bahnbrechendes geleistet. Giorgina Kazungu, Protagonistin dieser Idee, hat gut daran getan, jungen Künstlern ein Podium zu schaffen und gleichzeitig dabei klassische Musik „bierernst“ von verstaubten Attitüden zu befreien. Der Auftakt der Reihe, die im Übrigen bald auch bundesweit anlaufen soll, kann dabei als mehr als gelungen bewertet werden. Atmosphärisch hatte das Ganze etwas bestechend Lockeres. Gemütlich an Tischen sitzend – mit Bier und Raucherlaubnis – verfolgte die große Zahl der Gäste gespannt das Bühnengeschehen, ohne dass dieses auch nur eine Spur musikalischer Qualität einbüßen musste. Dafür sorgte das Astor-Trio aus Köln. Die drei Musiker agieren in außergewöhnlicher Besetzung. Tobias Kassung, Gitarre, Markus Gantenberg, Kontrabass und Irakli Tskhadaia, Violine, verpassen aber gerade mit musikalischen Spitzenfähigkeiten und unverfrorenen Arrangements ihren Darbietungen wohltuende Frische. Sarates ruhiger Walzer „Romanza Andaluza“ versprüht spanische Leidenschaft mit Temperament und emotionalem Tiefgang. Solistisch spürt Kassung in seiner Transskription von Schuberts Liedern aus dem Schwanengesang der notierten Lyrik nach – ohne Pathos, aber mit Kreativität.

    Unverkrampft setzt das Trio – mal eben so – aus Werken von Granados und de Falla einen dreisätzigen Vortrag zusammen – weil’s passt! – und kreiert dabei eine überaus gelungene Mixtur aus fantastischen Geigenparts, dynamischen Bassklängen und virtuosen Gitarrenläufen. Das macht denen auf der Bühne Spaß, und denen im Publikum sowieso.

    Natürlich – weil Astor-Trio – fehlt auch das Werk des Namensgebers nicht. In Astor Piazollas „Histoire du Tango“ erinnern die drei großen Talente an die Zeit, in der Klassik wie auch Jazz in Privathäusern, Clubs und Lokalen gespielt wurde. Jetzt wiederholt sich das, momentan in der KUFA. Und das ist gut so.

    Man darf darauf gespannt sein, wie es weitergeht. Sicher ist nur, dass Klassik in Jeans und mit Bier gehört und präsentiert wird.

    Bis demnäx

    Redaktion: Bernhard Wibben

     

    2005-06-15 | Nr. 47 | Weitere Artikel von: Bernhard Wibben