Trottoir Online Magazin / Künstler und Eventattraktionen

--- Trottoir Admin Ebene ---

 
 
 
Trottoir Header
Suche im Trottoir

Kategorien Alle Jahrgänge




Admin Bereich K10


Artikel - gewählte Ausgabe
Meist gelesen
Statistik
  • Kategorien: 66
  • Artikel: 3597
  • Szenen Regionen :: Frankreich

    [zurück]

    Fremdartig fremd, im eigenen Land

    Frankreich ist der Welt größtes Reiseziel und Einwanderungsland für Künstler aller Sparten. Sind die Scharen von Touristen, die im Lande selbst verreisen, in der Statistik mitgezählt? Man kann bis in den Indischen Ozean fliegen, und bleibt doch in Frankreich. In vielen aktuellen Kunstsprachen dominieren im Lande arbeitende Künstler. Oder glauben es zumindest. Selbst das eingewanderte Kulturvolk identifiziert sich voll mit Frankreichs Kunstlandschaft. Liegt es an der Begegnung mit den fremden Identitäten im eigenen Land oder an der Schwierigkeit, sich selbst zu entkommen, dass viele heimische Kompanien groteske, sagenhafte Fantasiewelten erfinden?

    Zum Beispiel Turak (sprich: Türak), eine der skurrilsten Kompanien im Bereich Figurentheater. Sie leben in ihrem eigenen Land, la Turaquie, leicht zu übersetzen mit Türakei. Ein Land der Pinguine irgendwo hinter dem Nordpol (sic!), wenn man dem Titel ihrer letzten Eskapade Glauben schenkt. „L’épaule nord“, das heißt nicht nur „Die Nordpole“, sondern auch „Die Nordschulter“. Die Türakei ist ein Land ohne Sprache. Hier leben die Pinguine in einer Art Altersheim, das auf dem Kopf steht. Tische und Stühle hängen kopfüber, die Lampe entsteigt dem Boden. Pfleger oder Nonnen in Dunkelgrau führen die greisen Pinguine in Hellgrau, deren grotesk lange, krumme und platte Hakennasen dem menschlichen Antlitz der Puppenspieler klar die Show stehlen. Sodass die Puppenspieler sich gar nicht, wie im Bunraku, das Gesicht zu verhüllen brauchen. Und was erleben die Pinguine? Wenn sie nicht schon als Greise aus dem Ei schlüpfen, werden sie besucht vom bösen Wolf, seilen sich aus dem Fenster, treten sich vor das Schienbein, bespritzen sich, tanzen mit Stühlen, fahren Skateboard ... Ein ganzes Arsenal von Verhaltensweisen, in denen Kinder sich perfekt wieder erkennen. Und die Größeren können sich an der Harmonie zwischen Pinguinen und Puppenspielern erfreuen, ebenso wie an einer Ausstellung absurder Skulpturen aus Pinguinen und Bügelbrettern, Tauwerk, Stühlen etc. Turak setzen sich auch im Straßentheater fest, wo sie im letzten Jahr, ein Festival lang, eine Sparkasse in die offizielle Botschaft der Turaquie verwandelten. Wie sagen sie so schön? „Ein Pinguin ist ein Engel, der zu lange im Kühlschrank vergessen wurde.“

    Auf halbem Weg zu den wahren Pinguinen liegt die Insel La Réunion, ein tropischer Vulkanfelsen im Indischen Ozean und einer der letzten Orte, wo Theater noch mitten in der gesellschaftlichen Debatte stattfindet. Körpertheater findet in diesem Schmelztiegel der Kulturen ganz natürlich seinen Platz. Seit 1986 existiert Théâtre Talipot, benannt nach einer mythischen Baumart des Landes (zauberhaft: irgendwann in seinem Leben treibt der Baum eine einzige Blüte; danach stirbt er und das Volk versammelt sich an seinem Fuß zum Fest). Aus einer Legende, vergessener historischer Wahrheit und politischem Engagement zaubert Talipot eine Reise in den Krater des Vulkans und zu den Wurzeln: „Kalla, le feu“. Die Truppe besteht aus Mimen, Tänzern und Opernsängern. Und alle sind alles, in einer, in jeder Person. Sie stammen aus Südafrika, Argentinien, Martinique etc., und natürlich von La Réunion, was ohnehin „Vereinigung“ bedeutet. Kalla, das erinnert natürlich an Kali, die Furie aus der indischen Mythologie. Auf La Réunion ist Kalla ein Kinderschreck, und bei Talipot wird aus ihr die Rächerin der Unterdrückten, Kämpferin gegen Sklaventreiber von gestern und Politiker von heute. Doch nichts würde das Stück mehr einengen, als es auf seine Aussage zu reduzieren. Und es geht in „Kalla, le feu“ nicht darum, einer Geschichte zu folgen, sondern darum, eine einmalige Begegnung von traditionellen Gesängen, Bach und Pergolesi zu genießen, während die Kreaturen direkt dem Vulkan zu entsteigen scheinen. Das Quintett trägt archaische Bastperücken, die Körper sind weiß oder mit erdfarbenen Krusten bedeckt. So scheinen sie keiner Epoche, keiner Spezies und keinem Geschlecht mehr anzugehören. Mal erstickt der Gesang in Tränen, mal feiert er die Befreiung. „Kalla, le feu“ besitzt die archaische Kraft, Grausamkeit und soziale Brisanz ursprünglicher Mythen. Die Kreationen des Regisseurs und Gründers von Talipot, Philippe Pelen-Balidini, werden von Mal zu Mal komplexer und ergreifender (www.theatretalipot.com).

    Im Vergleich zu Kalla ist Schneewittchen eine Soap Opera. Allerdings wird in der modernen Performance-Version von Catherine Baÿ aus der zarten Märchenfigur ein industrieller Klon, der in Gruppen auftritt und alle Zoten andeutet, die von Männern erfunden wurden: breitbeinig sitzen, Fußtritte, Catchen, Bier trinken, rauchen, eine Baustelle leiten oder patrouillieren, mit MPs und Bazookas bewaffnet. Diese Blanche Neige tragen Latexkostüme, die allesamt in derselben Form gegossen werden. Denn im Walt-Disney-Design erlangte Biancaneve weltweite Uniformität. Baÿ hinterfragt die Rolle des Mythos, die Unmöglichkeit, dem Bild von Snow White zu entsprechen, den programmierten Verlust der Individualität und deren Widerstandskraft. Denn unterm Strich tritt in dem Einheitslatex das Persönliche jeder Blanche Neige umso stärker zutage. Jede Bewegung der Gruppe ist improvisiert und doch genauestens erarbeitet. Keine Blanche-Neige-Performance gleicht der anderen. Immer passen sie sich der Umgebung an, ob in Paris, Berlin oder Moskau etc. Zarte Statur, bleicher Teint, nicht ganz Roboter, aber auch nicht mehr völlig Mensch. Mechanische, geklonte Bewegungen. Manchmal drehen am Ende sogar die Zuschauer ihre Köpfe mechanisch, Vögeln ähnlich, wie die Blanche Neiges. So unterwandern diese Schneewittchen-Klone unsere vorgestanzten Träume (www.blanche-neige.fr).

    Auch im Cabaret NoNo werden alle Verhältnisse umgestürzt. Das Publikum sitzt an runden Tischen in einer Art Zirkusrund (und diniert!), während auf der Außenbahn ein surrealistisches Bildertheater tiefe Blicke in das Lächerliche der Existenz erlaubt. Serge Noyelle kreierte eigens für sein philosophisches Kabarett einen schmucken Holzbau. In dessen Zentrum glänzt ein Lüster aus 3.500 Eiswürfeln, die langsam dahinschmelzen. Zur Stammbesetzung von NoNo gehört z. B. der Schweizer Kaspar Hummel, ein ehemaliger Ballettsolist, längst zu einem irren Schauspieler und Komiker konvertiert. Er jodelt als Miss Suisse im Trachtenkleid und geht als weißer Mime auf Jagd nach Schmetterlingen. Oder der englische Clown Alan Fairbarn (siehe Trottoir 43/2004), der gerne mit roten Wäscheklammern winkt, die er auf seine Ohren klemmt. Da ist der Brillenträger, der auf seinem Bügelbrett vom Wellenreiten träumt; eine Stepptanznummer übergewichtiger Matronen in grünen Badekappen; eine Nixe auf dem Piano; Rotkäppchen auf Elfenjagd; Erotik, Ironie, ein stummer Schrei im Winter, ein Zwergenorchester, Pferd und Huhn. Doch NoNo ist keine Kirmes, sondern eine Reise in die Welt von Märchen, Mime, Beckett, Butoh und Ballett, Comedy und Keaton. NoNo entfacht einen Orkan der Bilder, in dessen Auge dem Publikum weiß geschminkte Kellner das Dinner servieren. Hier spielt der Zuschauer seine Rolle wieder aktiv. NoNo ist Dada ohne offene Provokation, ein Fest der Sinne, einer der ganz großen, unvergesslich aufregenden Abende im Leben eines Theatergängers (www.theatreachatillon.com).

    Redaktion: Thomas Hahn

    2005-06-15 | Nr. 47 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn