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    Rückblick 18. Internationale Kulturbörse Freiburg

    18. Internationale Kulturbörse Freiburg:

    Kleinkunst mit System

    300 Aussteller, gut 90 Kurzauftritte und trotz klirrender Kälte noch mehr Besucher, als im vergangenen Jahr: Da kündigt die Messeleitung für die 19. Veranstaltung schon jetzt eine neue Messehalle an und einen um zwei Wochen vorverlegten Termin. Damit wurde gewachsene Messekultur zelebriert, denn Neuerungen sind bei der Freiburger Kulturbörse eigentlich schon Kult. Dank der Kritikfähigkeit der Messemacher hat sich auch diesmal wieder einiges verbessert. Ein Geben und Nehmen, das in der Messelandschaft einmalig sein dürfte. Endlich fand man für die Musikbühne eine Lösung, die das Auftrittsklima einer professionellen Konzertbühne bot. Geschickt geplante Wegstrecken und Sichtblenden verhinderten, dass das Kommen und Gehen der Messebesucher das Bühnengeschehen störte. Das System, mit dem man hingegen das Theatersaalpublikums steuerte, um es nach den Kurzauftritten in die Messehalle zu bugsieren, war ein Ärgernis. Die Seitentür wurde zum Nadelöhr und wer im Stau stand, war sich sicher: Das wird es im nächsten Jahr nicht mehr geben. Per Unterschriftenaktion dämmte man schon am zweiten Messetag unangemeldete Spontanauftritte ein und reduzierte so den Geräuschpegel auf ein erträgliches Maß. Viele mobile Acts, wie die Perkussions-Pilze „Les Champignons“ des Théâtre de la Toupine, die italienischen Baumriesen La Foresta di Lothian, die Kunstgefährte des Abacus Theaters, eine Schicksalsfee und vor den Hallen die lebenden Skulpturen von Amorphia belebten das Messegeschehen, während als i-Tüpfelchen neben den Alugroßständen Selbstvermarkter wie Clownin Betty alias Leoparden-Olga oder die Freiburger Geschmackspolizei mit bis ins kleinste Detail gestylten Messeständchen bestachen.

     Dos ToledosDer frühe Vogel fing den Wurm. Die Messetage wurden mit Glanzpunkten wie Uwe Steimle eröffnet und als am Mittwoch nach Christoph Siebers Kurzauftritt die Menschentraube am Messestand 826 immer dichter wurde, hatte man „Sie haben mich verdient“ schon verpasst. Im Theatersaal gab es neue Themen und frische Bühnenfrauen, junges Gemüse, das noch auf der Bühne von H. H. Friedrich standrechtlich geköpft wurde. Im fliegenden Wechsel zwischen Stand-up und Gemüsefigurentheater, zwischen Hip-Hop und Zen Buddhismus im Biosupermarkt wandelte sie in ihrem Programm „Kannibalen“ die Siegfriedsage in eine Proletenposse und die Kindheit in den Sechzigerjahren in eine „Wir hatten ja nix!“ Elendszeit ohne Handyvertrag. Da stand eine postemanzipierte Komödiantin auf der Bühne, die ungekünstelt auftrat, und das kann man mögen oder nicht. Ein echter Kracher hingegen war Martina Schwarzmann. Die Musikkabarettistin mit dem krachledernen Charme fühlte sich auf der Theatersaalbühne wie ein Stück Vieh auf der Auktion. Die kleine deftige Person singt in ihrem Programm „Deafs a bisserl mehra sei?“ von Fleischfachverkäuferinnenfetischisten, zwitschert Voodoo-Gstanzl, bittet den lieben Gott, dass sie es nie nötig haben möge, zum Resteficken auf eine Ü-30-Party zu gehen und verballhornt einen Metal-Hit im ländlichen Idyll. Herrlich, wenn eine Dicke im Diätenfrust durch die Verkettung aberwitziger Umstände am Fuße des Berges zerschellt und die Moral von der Geschichte so fleischeslustig vorgetragen wird. Michael Ehnert, der in „Mein Leben“ seinen Standpunkt sucht, seit er einen Bandscheibenvorfall erlitten hat, betreibt rabenschwarzes Politkabarett durch die Hintertür. Der malade Rücken ist nur der Anlass für das bitterböse Szenario eines Sozialstaats mit leeren Kassen und eiskalten Ärztehänden. Ehnert nimmt sich den Bühnenraum gewandt und füllt ihn mit großem Format. Die Masche der Musikkomödiantinnen Christl & Ilona, zweier Trachtenmaderln mit überdrehtem Lokalkolorit und einer abgeschmackten Ossi-Wessi-Mär, zog nicht. In den wortlosen Passagen allerdings konnte man ahnen, dass da eigentlich begnadete Musikerinnen in falschen Bühnenkörpern reinkarniert worden waren. Eine Zündschnur entfachte das sinnenfreudige Musikkabarett „Musik und Mechanik“ von Stahlbergerheuss. Wenn das Duo Stefan Heuss und Manuel Stahlberger mit getunter Ukulele und Presskanister Clayderman zu Leibe rückt und den mechanischen Bewegungslauf einer Nähmaschine nutzt, um einen Flamenco zu rattern, dann schaffen sich die beiden damit eine eigenwillige Nische zwischen großen Bühnenposen, schlichtem Fingerschnippen und aberwitzigem Liedgut. Ein optisch-akustischer Genuss, auch wenn die schrägen schweizerdeutschen Liedtexte so manchem unverständlich blieben. Viel Können ohne Kontext, so dramatisch knapp lässt sich die Darbietung „!! Viva la revolución!!“ des Clowninnentrios Tris auf den Punkt bringen. Schade, wenn so hochtalentierte Vertreterinnen dieser raren Spezies ihr mimisches und darstellerisches Können in einer so mauen Story verschleudern. Im Schnellschleudergang ließ in „Liebenslänglich“ die Chansonniere Sabine Fischmann den Erlkönig daherholpern, ein Mädchen und das Meer. Ein einzigartiger, aber auch ein eigenartiger neuer Stil, wenn sie da so im Schweinsgalopp durch seltsam bestückte Medleys saust und einem die Grotesken nur so um die Ohren haut.  Ludger HollmannSchnell reitet Frau Fischmann durch Text und Sinn, kann singen und mimen, aber macht einen mit dieser Zapperei schon in Kürze ganz kirre. Wohltuend die erfahren zitternde Hand von Irmgard Knef. Mit altersschlotternden Knien, aber ganz Grande Dame steht die verkannte Zwillingsschwester der Knef im Lichtkegel. Der Lack mag wie in ihrem frech vorgetragenen Chanson zwar ab sein, aber jetzt, wo der lange Schatten der Schwester nicht mehr auf sie fällt, kann sie ihr Charisma endlich frei entfalten. Ulrich Michael Heissig gibt die gedoppelte Knef so überzeugend, dass man der weisen Zweit-Diva stundenlang andächtig lauschen mag, wenn sie im Lehnstuhl sitzt und sich im Lichtkegel einer Stehlampe an goldene Zeiten erinnert. Aber Vorsicht, im senilen Luxuskörper steckt auch eine spitzzüngige alte Vettel.

    Hochkarätiges bot der Varieté-Block am Dienstagabend, bei dem Moderator Philip Simon lässig und mit niederländischem Charme dynamische Programmbrücken schuf, die vom Zaubern bis zum Kalauern reichten. Jungejungeundderroemer errollten sich 2005 mit ihren Hutkrempen schon den Kleinkunstpreis Baden-Württemberg und rollten mit dieser verblüffend einfach wirkenden Nummer das Programm auf. Mit viel Understatement verpackten Fette Moves ihre Muskelpakete in schwarze Straßenanzüge und lieferten eine Breakdance-Show, die nicht nur mit atemberaubender Akrobatik überzeugte, sondern auch mit elegant überlegener Choreografie. Die Äquilibristen La Vizio erzählten die Geschichte schwereloser Harmonie und schufen im Schulterstand Figuren, die den Betrachter mit Kraft und Anmut, aber vor allem mit Ausdruck betörten. Das Clowntrio Trifolie überzeugte mit absurd schneidigen Sportepisoden, dem Schwimmrekord dank Haifischflosse, intelligenten Billardkugeln und ellenbogenstarken Sprintern. Nur mäßig war die Rahmenhandlung des American Dream, in die Zauberer Simon Pierro seine Manipulationen und Großillusionen verpackte. Dobs Brugal überraschte mit um die Ecke gedachten, rhythmisch und melodiös verblüffenden Klang-Jonglagen auf einer überdimensionierten Fortentwicklung des „Rhythm & Bounce“ und eröffnete so eine neue Dimension des Genres. Nur bei Christoph Engels waghalsigem Spiel mit der Sensationsgier des Publikums schien der Bühnenteufel los zu sein. Technische Probleme ließen sein Riesentrommelspektakel nicht in Licht-Effekten erstrahlen, sondern einfach nur im Wasser absaufen.

    Noch nie wurde die Geschichte der Popmusik in einer so temperamentvoll vorgetragenen Trash-Orgie aufgerollt wie am Mittwoch von den The Pops in „Die Erfinder der Popmusik“. Mit den Beweisfotos im Bühnengepäck belegte die um Ruhm und Geld geprellte Familie Popolski, dass die Wiege der Popmusik nicht in Amerika stand, sondern im achten Stock eines Plattenbaus mitten in Polen. Dort schrieb schon der Großvater Welthits und war in seiner besten Schaffenszeit sogar der erste Mann auf dem Mond. Am Ende schunkelte der ganze Saal zum schrägen Beat des mitreißenden Popolski-Pop. Wenn Kabarettist Fabian Lau „Intim“ wird, dann gesteht er seine Schildbürgerschläue beim Autogrammkartenkauf, sieht das Messer im Rücken seiner Frau und steckt als Privatpatient seinem Arzt gerne mal eine unnötige Behandlung zu, denn der will ja auch nur leben wie er – in einer wundervoll bösen Welt mit schwarzem Humor. Bezaubernden Slapstick bot Carl-Einar Häckner, der sich mit „Chili con Carne“ mitten ins Chaos eines bevorstehenden Konzertes stellte. Das Publikum sitzt schon im Saal, aber die Stradivari knickt ein und das Behelfsmodell Ikea ist nur ein Bausatz. So versucht der verwirrte Musikus, sich aus der peinlichen Situation herauszuzaubern. Mit bärbeißig irrem Lachen greift er zu Taschenspielertricks und zur Mundharmonika – aber dabei nimmt es fast ein schlimmes Ende. Das Publikum bog sich vor Lachen.

    Der Komiker-Kabarettist Helfried war am Donnerstag in Hochzeitslaune und plante den schönsten Tag im Leben mit buchhalterischer Akribie. Ein sehnsuchtsvolles Liebeslied und ein zärtliches Part de deux mit dem eben gekauften Brautkleid, eigentlich schon eine Vorahnung des Unglücks. Die Sache geht ganz anders aus als geplant. Wunderschön die Brüche zwischen verklemmt mit roten Ohren vorgetragenen Sprechparts und Gesangsdarbietungen mit unglaublichem Schmelz.

    Kabarett featuring Comedy, so Volker Surmann über sich selbst und „Die wahre Nacktheit“. Ein Bauernkind wie er hat trotz Baggy-Jeans keine „street credibility“ und an seiner Bühnenpräsenz ließe sich wirklich noch feilen. Aber gute Geschichten hat der Bauernlümmel parat, denn er wuchs mit Mamas selbst genähter Strandumkleide auf und dem Haschkeks für die Horizonterweiterung. Klaus Eckels „Schlaraffenland“ birgt hinter einer fröhlich-naiven Dumpfbackigkeit so Bitterböses wie Event-Kirchen mit Happyhour-Beichten und Schäfchenrückholaktionen, wie den Ärztestrich am Wiener Gürtel und einen Präsidenten, der Rentner abfedert, statt sie zu rupfen. Der österreichische Jungkabarettist singt Lieder über Gegenstände wie die Raufasertapete und das Zone-30-Schild mit Ringelnatz-artigen Schüttelreimen und lacht über seine eigenen Witze. Mit seinem unglaublichen Talent für die Spitzen in der Umgangssprache zappelte er sich in die Herzen der Kulturbörsianer. Cholerisch, komisch und einfach klug verzweifelt Philipp Weber systematisch am Alltag. Bei „ruf mich an“ denkt Weber an seine Mutter und nicht an Callgirls. Wenn er seine Frau zu Hause so vorfinden würde wie diese Damen, er wüsste, es war ein Schlaganfall. Studiert er die Sexualstatistik, so wird ihm klar: Irgendein Perverser da draußen muss die ja schließlich erbringen. Mit „Schief ins Leben“ nimmt er Anlauf zu einem Alltagstauglichkeitstraining, das ihn oft an den Abgrund seiner Tischkante treibt, wo ihn nur die Zehen vor dem Absturz bewahren. Unverwüstliche Bühnenpräsenz bewies Martina Brandl, sprühte an der Seite von Pianist Martin Rosengarten im Jogginganzug und griff mit „Halbnackte Bauarbeiter“ deftig mitten in den Großstadtdschungel, um u. a. von der Annäherung zweier Stadtneurotiker zu erzählen. Kleine zärtliche Gesten machen Peter Shub zu einem Ausnahmekomiker und Pantomimen. Wenn er eine welke Topfpflanze auffrisiert, sich vom unsichtbaren Hund gängeln lässt und ein paar englisch-deutsche Wortbrocken einstreut, klebt ihm das Publikum nicht nur an den Lippen. Als der letzte Vorhang im Theatersaal fiel, winkte Shub das Publikum zum Abschied mit seinem Charisma minutenlang in eine paradoxe Situation – Gehen oder Bleiben? Wiederkommen!

    Redaktion: Sibylle Zerr

    AdNr:1027, AdNr:1069   

    2006-03-15 | Nr. 50 | Weitere Artikel von: Sibylle Zerr