- Der ganz normale Kabarettwahnsinn -
Wie andere vaterlandslosen Charaktere auch schläft der Kabarettist morgens immer bis mittags. Dann steht er auf, möglichst mit dem Kriegsfuß. Noch im Bademantel eilt er zum Briefkasten: ist der Brief vom Pointenverleih da, gibt es Kritiken oder Schmähbriefe? Ja, so ist es: Drohungen sind des Kabarettisten Ambrosia. Von Zeit zu Zeit schaut er in seinen toten Briefkasten, wo gelegentlich finanzielle Zuwendungen jener geheimnisvollen Macht zu finden sind, die staatsgefährdende Elemente unterstützt. Ach, Sie meinen, mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems seien tote Briefkästen gestorben? Sicher, vom Osten ist nichts mehr zu erwarten, die Auftraggeber sind in woanders zu vermuten, Calí, Bagdad, suchen Sie sich was aus. Das Frühstück ist gleichzeitig das Mittagessen. Dabei studiert der Kabarettist aufmerksam die Zeitung, um festzustellen, welche Pointen die Realität von allein erledigt hat. Für gewöhnlich trinkt er dazu einen Becher Ätznatron. Gegen Ende des Spätvormittags erledigt er seinen Singlehaushalt. Oh ja, als Einzelgänger hat er es schwer, denn Spott soll ja im Verein am schönsten sein. Mit gebotener Bitterkeit leert er Dreckkübel aus und widmet sich der Jauchegrube. Die Stilblüten verlangen Aufmerksamkeit. Dann gilt es, die Kleinkunstpreise abzu-tauben: Pokale, Statuen, Glocken, Plaketten - das Terrain wird von Jahr zu Jahr unübersichtlicher. Am späten Frühnachmittag sieht man ihn in seiner Wortwerkstatt. Er drechselt Buchstabengetüme, zimmert ganze Sätze zurecht, bastelt an Wortspielen. Sein Handwerkzeug muß er täglich einer eingehenden Materialprüfung unterziehen: sind die Giftpfeile spitz und giftig genug, die Widerhaken poliert, ist das Kriegsbeil geschärft? Ab ins Büro! Der Kabarettist ist ein Künstler in Selbstverwaltung. Sind die Beiträge an die Kabarettungsgesellschaft entrichtet, an den Possenreißer-Verein, an die Künstler-Asozialkasse? Wie weit sind die unerklärlichen Steuererklärungen gediehen? Kabarett - was bedeutet dieser Begriff überhaupt? Gliedern wir ihn in zwei Teile, Kaba und rett, stellt sich die Frage: was heißt das? Die Kaba retten? Ist der beliebte Plantagentrank in Gefahr? Oder steht Kaba für etwas anderes? Am frühen Spätnachmittag steht der Kabarettist bereits im Fitness-Trakt. Er dehnt Pointen, hantelt mit Ausdrücken, jongliert mit Inhalten und testet Schlagfertigkeit und Zielgenauigkeit am Hometrainer. Ob er will oder nicht - am späten Frühabend muß er ins Kaffehaus, das Leben eines Bohèmiens verlangt das. Sie haben eine Stechuhr dort. Er muß Unmengen heißer Schokolade trinken, um seinen Kakaohaushalt zu regulieren: täglich benötigt er mehrere Liter, weil er schließlich Zeitgenossen da hindurchziehen muß. Darüber hinaus bleibt ihm gerade genug Zeit, einen Sketch, zwei Songs und drei Gedichte zu schreiben, von den Essays mal abgesehen. Am frühen Spätabend des Spätsport-Pensum, er muß fit sein für den Auftritt: Durststreckenjogging, Hindernisrennen oder Spießrutenlauf, je nachdem. Anschließend die Krallen geschärft und los gehts: bis in die Puppen steht er auf der Bühne. Freizeit?? Der Kabarettist bedarf der Freizeit nicht! Kaum lacht er zum Privatgebrauch. Ein karges Mahl, Vollfettnäpfchen oder Lachkonserve, dann säuft sich der Kabarettist die Hucke voll, denn nachts sind alle Ketzer blau. Müde ist er, aber der Beruf gestattet wenig Schlaf. Der Kabarettist ist dem Weltgewissen verpflichtet, immer im Dienste der Menschheit; prügelt sich mit den fundamentalen Fragen der Welt herum und muß obendrein immer einen bissigen Spruch auf Lager haben. Aber was tut man nicht alles für Geld? In seinen vier Wänden ist er via Nabelschnur mit den Medien verbunden. Nicht selten hängt im ein Fax zum Halse raus. Er ist ständig gefordert, muß pausenlos umdenken: Politiker haben eine geringere Haltbarkeitsdauer als früher und die neueren Modelle sind immer seltener parodiekompatibel. Obendrein muß er ohne Unterlaß dafür sorgen, daß die Welt ein kleines bißchen schlecht bleibt - davon hängt sein Leben ab! Erst in den frühen Morgenstunden fällt er in eine Art Bereitschlaf.
1998-09-15 | Nr. 20 |