Der Aufstieg des Straßentheaters in Frankreich ist nicht mehr aufzuhalten. Die neue Kulturministerin Catherine Tasca wird sich ihm kaum in den Weg legen. Der anderen Catherine, der geschaßten Trautmann, war es gelungen, sich trotz respektabler Budgeterhöhungen dank ihrer chaotischen Amtsführung – immerhin brachte sie mehr Zeit in Straßburg zu wo sie als Bürgermeisterin im Amt blieb - mit den Künstlern aller Sparten zu überwerfen. Da sollte die Tasca die immerhin nach ihrer Eliteausbildung ihre Karriere im Theater begann und gerade den Zivilpakt für eheähnliche Lebensgemeinschaften aller Couleur durchfocht mehr Sensibiltät für Künstler entwickeln, auch für die von der Straße. Wenn sich eine Kunstgattung endgültig etabliert erkennt man das zum Beispiel an folgendem Vorgang : da hatte Catherine die Erste einen hundertseitigen Bericht in Auftrag gegeben der nun vorliegt. Das Thema : die Ausbildung und Vermittlung der künstlerischen Praxis im Straßentheater. Ein feines Stück Poesie mit Aussicht auf einen komfortablen Platz in einer ministerialen Schublade. Könnte als subversive Aktionskunst von interrogativer Prägnanz durchgehen mit der Frage : Kann das Straßentheater ein gesundes Verhältnis zum gedruckten Wort entwickeln ? Da war doch diese Anzeige : Autoren gesucht. Hoffentlich meldet sich bald jemand und schreibt intelligente Stories und Szenarios für Frankreichs Kompanien in ihrer schöpferischen Krise.
Was man zur Weitergabe und zur Speicherung von Erkenntnissen braucht sind Archive. Zu den wohl interessantesten gehörte die Sammlung in Aurillac. Und ausgerechnet dem Straßentheaterfestival sind die Büros abgebrannt und mit ihnen der gesamte Fundus. Die Dokumentation zu fünfzehn Jahren Festival ! Doch in jeder Katastrofe steckt eine Chance. So wird es wohl der Dalai Lama sehen. Und warum sollte der Brand von Aurillac nicht vor Augen führen das Straßentheater auch Geld braucht um die inzwischen beachtlichen Strukturen zu unterhalten ? In Marseille droht Michel Crespin mit dem Rücktritt. Der Gründer des Festivals von Aurillac ist heute Leiter des größten Zentrums, des Centre national des arts de la rue. Name : « Lieux publics (Öffentliche Stätten). Crespin fordert eine Budgeterhöhung um 1.2 Mio. Francs. 100.000 F koste allein die Einführung der 35-Stunden-Woche, rechnet er vor. Und das war ja die Idee der Sozis in der Regierung. Crespin beim Haareraufen oder : wie die Gewerkschaften einen Alt-68er im Schockverfahren altern lassen. Nun haben wir Catherine II. und der Verteilungsk(r)ampf um die Knete kann aufs Neue entbrennen.
Zur No-Budget-Kunst : Faire le trottoir, das bedeutet auf französisch so viel wie auf den Strich gehen, aber das meint Cathy Serin natürlich nicht wenn sie als Odette auftritt und mit der Ordnung aufräumt : « Odette fait le trottoir. » Denn auf dem Trottoir, da lebt sie (Odette, nicht Cathy). Odette ist eine fröhlich frotzelnde Pennerin, der « Abschaum der Gesellschaft ». Zwischen ihrem mühsam verschnürten Koffer und Heringsdosen singt sie zynische Lieder auf die Konsumgesellschaft und ihren Verflossenen. Die Männer, die hat sie gekannt ! No Future oder auch Gerade gefeuert steht auf ihrem Koffer, da wo Andere Just married schreiben würden. Eine Solo-Dreigroschenoper zwische Revolte und Spaß. Cathy Serin spielt die Figur vom doppelten ihres eigenen Alters mit so viel Augenzwinkern, daß mann sich dem Charme des maroden Scheins wehrlos hingibt und der Täuschung mit dem Alter nie und nimmer auf die Spur käme. Im Winter ist es selbst Odette, dem Opfer, zu kalt um auf dem Trottoir zu spielen und so tritt sie in der Kneipe auf. Das Théâtre dans les bars ist inzwischen in Paris eine florierende Modeerscheinung. Im Sommer wird Cathy wieder auf einigen Festivals die Trottoirs unsicher machen. Nämlich in Sotteville, Grenoble, Chalon su Saone und Aurillac (Daten s. u.).
Der tanzende Fassadenkletterer ist eine Erfindung von Antoine le Menestrel. Fleißige Straßentheaterpilger kennen ihn aus « Les Urbanologues associés », einem Evergreen von Les Pietons. Dort klettert er von Fenster zu Fenster, steigt mal in eine Wohnung oder schleicht sich als Rosenkavalier auf Mauervorsprüngen entlang. Zu den vereinten Urbanologen gehört Jean-Marie Maddeddu, der Chef der Pietons der am Boden mit der Trillerpfeife das Unternehmen Stadterkundung dirigiert. Die Urbanologen gehören zu Jenen die das Straßentheater noch wörtlich nehmen und tatsächlich helfen, das urbane Umfeld anders zu erleben. Le Menestrel, der Akrobat, nennt sein Solo « Service a tous les etages ». Darin schwingt er zwischen Alpinismus, Mime, Tanz und Fantomas zu Bizets Carmen die aus den Lautsprechern dröhnt. Menestrel ist wohl der einzige Künstler der sowohl auf Straßentheaterfestivals, Tanzfestivals und Alpinismus-Events auftritt. Mit Vorliebe schmiegt er sich an markante historische Gebäude, so wie im Februar bei schneidend kaltem Wind an die Fasade der Oper von Avignon. An solchen Orten kommen Poesie und Dramatik seiner Aufführung voll zur Entfaltung.
Eine alte Bekannte wird diese Saison nicht so stark präsent sein wie üblich. Ilka Schönbein ist im Juli in Kanada auf Tournee und wird vorher aber noch am 15. Und 16. Juni in Berlin auftreten und am 25. Und 26. Juni beim Marionettentheaterfestival in Magdeburg. Sie wird mehrheitlich die neue Fassung ihrer « Metamorphosen » aber auch ihre Fassung von Froschkönig spielen und sich danach zurückziehen um nach all den Jahren stetiger Metamorfoserei doch mal etwas ganz Neues zu kreieren. Wenn es nicht zu viel Abschiedsschmerz von der aktuellen Version, « Métamorphoses de métamorphoses » bedeutet.
Deutschland
Holzminden 9. Bis 12. Juni u.a. mit Theater Titanick (D), Artonik (F), Cie. Cacahuete (F), Tam Tam (NL), Les Alamas Givrés (F), Aksident (B).
Internet : www.holzminden.de
Belgien
Ath (50 Km von Brüssel in Richtung Lille)
5. Biennale des arts de la rue
9.Sept.
u.a. mit Delices Dada, Kumulus, 26000 Couverts voraussichtlich Premiere eines neuen Stückes). Die Cie Desastres aus Lille arbeitet zum Thema « Le Peluchethon » (Satire auf TV-Wohltätigkeitsveranstaltung). Ziel : Verteilung von Plüschtieren an Unverheiratete.
Internet : www.ath.be
Großbritannien
Stockton-on-Tees
13th Stockton International Riverside Festival
27. Juli bis 6. August
The UK’s finest festival of street entertainment
Featuring: Circus 2000, Drei Zirkustruppen und Kurse für das Publikum
www.stockton-bc.gov.uk
Spanien
Tarrega, Fira de teatre 8.-11. Sept.
Frankreich
Sotteville-lès-Rouen, Festval Vivacité 23.-25. Juni
Cirque Artonik (F), Délices Dada (F), Sol Pico (E), Trans Express (F), 26000 Couverts (F), Théâtre de l’Unité (UK), Englische Techno-Abende
Internet : www.vivacite.com
Grenoble
Festival du théâtre européen
Eröffnet mit Straßentheater-Wochenende vom 30. Juni bis 2. Juli
Artonik (F), Le Carillon (F), Jeff Bradley (can), Le Phun (F), Arti per via (It), Five Angry Men (Aus)
Chalon-sur-Saone
Chalon dans la rue 20.-23. Juli
www.chalondanslarue.com
32 Theaterkompanien, davon 22 franzoesische, 3 afrikanische, 4 israelische, 2 hollaendische, 1 belgische.
u.a.: Bloc Operatoire (F), Cirque en kit (F), Decor sonore (F), Delices Dada (F), Lackall Duckrick (F), The Lunatics (NL), Les ballets C.de la B.(B), 26000 Couverts (F), Vis a vis (F)
Libourne 17.-19. August
Mit reglementiertem Off
Internet : www.festarts.com
Aurillac
23.-26. August
Internet : www.aurillac.net
Cognac
Coup de chauffe
Anfang September
Internet : www.cognac-france.com/arts/cchauffe/
Châtillon
Les arts dans la rue
22.-24.September
Programm mit 50% Premieren
Theater, Tanz, Musik, moderne Kunst
Mit reglementiertem Off
Internet : www.multimania.com/theatrechatillon/
Reichlich Links zu Festivals, Kompanien und Institutionen auf der Website von Lieux Publics in Marseille : www.lieuxpublics.com/lp/rubriques/arts-de/p_sites.html
Die Website auf der sich am tiefsten in den Links wühlen lässt : www.lefourneau.com
2000-06-15 | Nr. 27 |