Ähnlich Boden-los wie auf Bolzes schwebender Plattform geht es zu bei Camille Boitel. Der bei Annie Fratellini ausgebildete Akrobat will in „L’immédiat“ (Unmittelbar) darüber nachdenken, wie sich der Mensch verhält, wenn ihm nur der Augenblick selbst bewusst ist. Im Leben entspricht das, mehr oder weniger, zwei Zuständen: Zum einen der Kindheit und zum anderen einer Katastrophensituation, in der keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Beides findet hier zusammen. Es ist, als stürmten sechs Kinder den Dachboden ihrer Großeltern. In der apokalyptischen Rumpelkammer aus Hunderten von Möbelstücken, Filmdosen, Besen und Kanistern („bidon“ heißen die auf Französisch!) entsteht eine Dramaturgie aus Flucht und Schwebezuständen und der Katastrophe. Stuhl, Bett, Fenster, Schrank und mehr brechen zusammen, sobald jemand sie auf reguläre Art benutzen will. Da bleibt dann nichts anderes, als zu springen und so im nächsten Zusammenbruch zu landen, und wieder zu springen ... In dieser Augenblicklichkeit kann keine Psychologie der Figuren entstehen. Es geht allein um deren Jetztzustand. Und das ist eben Zirkus. Allein, in der Entwicklung des Stücks war von Augenblicklichkeit nichts zu spüren. Im Gegenteil, zehn Jahre trug Boitel das Projekt mit sich herum. Die letzten zwei Jahre widmete er sich intensiv seinen Recherchen. In Anlehnung an Buster Keaton und Kafka wollte er das Rad des Zirkus neu erfinden. Das ist so naiv wie die Kindsfiguren in „L’immédiat“, so tragikomisch wie der Umstand, dass die Uraufführung direkt nach dem Erdbeben auf Haiti stattfand. Wer je ein Erdbeben erlebte, dem wird hier sein Trauma wieder wachgerüttelt. Wer nicht, der wird die Figuren mit Keaton und den anderen Mimen vergleichen, auf die Boitel sich hier beruft, und er wird an dem Qualitätsunterschied verzweifeln.
Seinen eigenen Weg gefunden hat dagegen Johann Le Guillerm. Den verfolgt er Jahr für Jahr, wie auf dem Weg zu einem Lebenswerk. Sein Stück „Secret“ (Geheimnis) entwickelt sich ständig weiter, in dem Maße, wie sich seine Installation „Monstration“ und seine Ausstellung „La Motte“ verändern. Sein Cirque ici ist eben immer „hier“, und dabei ständig unterwegs zu neuen Träumen und Geheimnissen. Le Guillerm ist wie ein Wissenschaftler, der seine Forschung immer weitertreibt, sodass der Fortschritt selbst das eigentlich spannende wird. Das war bei Pierrot Bidon und seinem Motorrad-Zirkus ganz ähnlich. Das Gute an Le Guillerm: Er bleibt berechenbar und daher ein Trumpf für Förderer. Die Kulturstiftung der Bank BNP Paribas greift ihm seit Urzeiten unter die Arme und der Staat schickt ihn gerne ins Ausland. Das schafft dieses gewisse Etwas im Image, diese Verbindung von Kunst und Wissenschaft, von Rationalität und Mystik, in der sich Zukunft und Vergangenheit zu verbinden scheinen. Sich von der Augenblicklichkeit zu befreien, das schafft eben Stabilität. Bonjour, Herr Boitel!
Aber einen Anwalt findet Boitel schließlich doch noch, und zwar in Bernard Kudlak, dem Gründer des Cirque Plume (s. Trottoir Nr. 65). Der kann zwar nichts über Teer oder Federn sagen, aber er führt aus, wie Zirkus „Die Kindheit der Welt zurück auf die Bühne bringt“, und zwar in einer englischsprachigen Sonderausgabe der französischen Zeitschrift Stradda. Die enthält weiter Überlegungen zu Festivals, Netzwerken, einen Überblick über die Zirkuslandschaft in Skandinavien von Tomi Purovaara, ein Porträt von Philippe Ménard (s. Trottoir Nr. 64) und eins des No Fit State Circus. Die Ausgabe mit dem Titel „Circus and Street Arts“ enthält ferner ein Special über Outdoor-Tanz, wo natürlich auch einige Kompanien erwähnt werden, die ich hier im Trottoir-Magazin in den letzten Jahren in der Rubrik Straßentheater vorstellen konnte, so auch Les Antipodes in diesem Heft. Wer aber in Zukunft den zeitgenössischen Zirkus verfolgen will, der muss halt fremdsprachige Quellen anzapfen oder direkt auf die Festivals fahren. Und von denen gibt es immer mehr (www.horslesmurs.fr).
Redaktion: Thomas Hahn